Herr Tourette und ich
Beerdigung habe ich Blumen geschickt. Danke für die Hilfe, habe ich geschrieben. Aber er hat nicht geantwortet. Wohl auch besser so.
Er hatte mir ja bereits einmal geantwortet.
Ich kann nicht warten
(1984, Frühling) Ich habe es eilig. Nach der Oberstufe und dem Gymnasium kann mich nichts aufhalten – ich muss weg, brauche Luft, muss mich aufmachen. Die Noten sind so schlecht, wie es gerade noch geht. Ich bin durch die Oberstufe gehinkt, das Gymnasium war mir egal, und ich kriegte ein »Nicht bestanden« als Belohnung. Aber das ist mir egal, ich muss weg, neue Luft atmen. Ich habe es eilig.
Auf dem Abschlussfoto von der Schule bin ich nicht mit drauf.
Der Bus fuhr am Tag, bevor das Foto gemacht wurde.
Und der Bus fährt nur dreimal die Woche.
Teil 2
Same shit, new wrapping
(1984, Sommer) Same shit, new wrapping, gibt Arild in den Sisters of Mercy als offiziellen Grund dafür an, dass sie sich entschließen, die Band ein drittes Mal aufzugeben.
Wenn ich Zwänge und Tics ebenso leicht ablegen könnte, dann würden die kommenden zehn Jahre nicht so verdammt mies werden. Die Art der Tics und der Gedanken verändert sich nicht, sie tauchen nur ständig in neuer Verpackung auf.
Same shit, new wrapping.
In diesem Sommer fahre ich sofort nach Oslo. Mein großer Bruder hat mir einen Sommerjob an seiner staatlichen Arbeitsstelle angeboten. Ich trage Briefe aus, fahre die Hauspost herum und fühle mich ziemlich gut. Mein großer Bruder wird zu einer Auszeit in meinem Leben, zu einer Unterbrechung der Routine und der Langsamkeit. Er ist Städter, bewegt sich ganz natürlich in den Straßen, und er ist ein gutes Stück älter als ich, fühlt sich aber trotzdem wie ein Bruder an. Der große Bruder ist cool. Er isst Toastbrot mit Erdbeermarmelade und fährt Auto, als wäre er bei jedem Abschnitt von Bergerac dabei gewesen. Er hat lachende Freunde, die im Schärengarten Rotwein trinken und Hühnchen grillen und absolut abgefahren cool Frisbee spielen. Er bringt mir auch das Frisbeewerfen bei. Und er bringt mir wirklich bei, Frisbee zu mögen – es beruhigt mich, wie ein Besessener hinter dieser Plastikscheibe herzurennen. Das Hirn ruht sich aus, der Körper arbeitet, wunderbar. Mein großer Bruder nimmt mich auch auf Fußballturniere mit, wie ich sie bisher nur im Fernsehen gesehen habe. Und da sitze ich dann mit zehntausend anderen auf der Tribüne. Zehntausend – das sind dreimal so viele Leute, wie es zu Hause im Dorf gibt. Und ich kenne keinen Einzigen davon.
Während des Sommerjobs wohne ich die ganze Zeit bei meinem Bruder, und es läuft größtenteils gut. Doch nach ein paar Monaten merke ich, wie sich Routine und Langeweile einstellen, das macht mich wuselig, und dann kommen die Zwänge und Tics. Und dann muss ich mitten im August die Arbeit abbrechen, weil ich einberufen werde.
Nato und ich
Ich sollte eigentlich ein ärztliches Attest bekommen, das mich für untauglich erklärt, Waffen zu tragen, und noch untauglicher dafür, hoch oben im nördlichsten Norden isoliert zu sein, mit der Barentssee als Nachbar und Tics und Zwängen als Zimmergenossen. Aber ich bin überzeugt davon, dass der Militärdienst mir helfen und die Extraportion Distanz verschaffen wird, die ich benötige. Außerdem ist niemand da, der mir ein Attest ausstellen würde, denn der Herr Psychotherapeut behauptet, ich sei in der Pubertät, während Doktor Brezel sagt, ich hätte eine paranoide Persönlichkeitsstörung. Ich werde zur Armee geschickt, was mein Selbstvertrauen auch nicht unbedingt stärkt. Ich habe keine Noten, kein Examen, aber mein Körper ist umso gesünder. Kein Hirn + guter Körper = perfekter Soldat.
In den ersten Monaten geht es mir ganz akzeptabel. Das Neue, eine andere Umgebung und ein schweinekaltes Klima tun mir gut. Aber dann sind sie wieder da – die Routinen und die Langeweile, Hand in Hand, Wange an Wange. Der Druck von Tics und Zwängen wächst, es ist schwer, den Körper aus dem Bett zu wälzen und die Finger am Abzug der AK 4 zu halten. Und ich überlebe, ich schaffe es, die Zwänge einigermaßen auf Abstand zu halten, weil ich es schaffe, schlaue und elegante Bewegungen und Entschuldigungen zu erfinden, die mir alle abnehmen. Ich lasse das zwanghafte Verhalten zu einem Teil meiner Persönlichkeit werden. Es ist egal, ob meine Konzentration abwesend ist, wenn nur der Körper anwesend ist. Der Körper ist es, der die Arbeit erledigt, und das zählt. Meinem Intellekt habe ich es nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher