Herr Tourette und ich
verdanken, dass ich das Maul voll Schnee habe und meine Zehen kalt wie tiefgefrorene Cocktailwürstchen sind. Es kommt darauf an, durchzuhalten, die Kälte zu ertragen und zwanzig Kilometer in nassen Klamotten zu marschieren. Die Grundphilosophie der ganzen Truppe kann für 1984 in einem Wort zusammengefasst werden: Erkältung.
Einen Krieg wird es sowieso nicht geben, die Sorge hat sich gelegt.
Ich ticse viel, aber alle scheinen mir meine Ablenkmanöver voll und ganz abzukaufen. Der ein oder andere beobachtet mich heimlich, manche flüstern, einige lächeln, aber die meisten glauben, dass ich wirklich etwas fallen lasse, wirklich nach etwas suche, wirklich über etwas stolpere. Ich stampfe mit den Füßen im Schnee, rufe, brrrr , klatsche in die Hände, es zuckt im Bauch. Vielleicht macht das die Gegenwart der anderen Soldaten, dass ich nicht zu lange in Tics oder Zwang verharre. Die Vorstellung, dass jemand mitten in einem Ritual auftauchen könnte, ist ausreichend furchtbar, dass ich mich beeile oder ganz auf die Ausübung verzichte. Die ständige Gegenwart der anderen bewahrt mich davor, mich zu isolieren.
Mit meinem neu gewonnenen gymnasialen Verhalten werde ich, ob ich es will oder nicht, zum Provokateur. Ich ticse und zwangshandele zu viel draußen im Feld, ich schieße zufällig am falschen Ort oder verhöhne das »Bereit zum Schuss« des Leutnants mit meinem eigenen »ready for take-off«, was achtmal am Tag zu hören er nicht sonderlich witzig findet. So werde ich zum gewöhnlichen Flak-Assistenten herabgesetzt, was furchtbar langweilig ist, was wiederum dazu führt, dass ich anfange zu singen, wenn es doch still sein muss, und im Schweigen verharre, wenn ich einen Inspektionsbericht abgeben soll, was eine erneute Degradierung zur Folge hat. Ich lande im Karzer, nur weil ich mich in ein ziemlich unchristliches Mädchen von den Lutheranern im Nachbardorf verliebe, das zufällig einen christlichen Cousin hat, der Offizier ist, der zufällig zu Hause ist, als das Mädchen mich zufällig unerlaubt zu Besuch hat, eine verbotene Mission . Ich muss mich dem Truppenoberst erklären. Ich sage es so, wie es war, dass ich nämlich beim Zahnarzt war und zufällig am Zimmer des Mädchens, fünfzig Kilometer östlich, vorbeikam. Degradierung. Ich habe ein loses Mundwerk, drücke mich direkt aus, habe keine Angst – natürlich macht mich das in der Gruppe der Soldaten populär und zu einem etwas schrägen Typen, den die meisten respektieren. Ich setze mich für die Schwachen ein, betrachte mich selbst als einen Amateur-Jesus und predige im Speisesaal über den Sinn des Lebens und vor allem des Unterleibs. Meine Ideen und Ausfälle machen mich bei den anderen beliebt, aber beim Oberst geradezu verhasst, so dass er mich innerhalb einer Woche von Schwuli bis Scharlatan alles nennt, und das vor demselben Publikum, nämlich dreihundert zum Appell versammelten Soldaten.
»63 Sandstrak, drei Tage Nachmittagsstrafe für unpassendes Benehmen gegenüber dem Oberstleutnant.«
Zucken im Bauch, kleines Geräusch .
»Fetter Arsch, Leutnant Marsch«, sage ich kindisch laut, ohne es laut sagen zu wollen. Kollektiver Lachanfall, und der Leutnant gleicht einer Cocktailtomate. Ich habe Rückhalt, man mag mich, und ich merke, dass ich jeden jederzeit angehen kann.
Ich werde auf die niedrigste Stelle degradiert, die man in der Truppe haben kann: Interner Journalist. Ein unfreiwilliger Geniestreich. Jetzt bekomme ich die Chance, mit Radio und Tontechnik zu arbeiten. Das Thema beginnt mich zu interessieren, und ich will es auch nach dem Militärdienst weiter verfolgen. Ich habe eine seriöse Alternative zu erstem Harpunier und Ölingenieur gefunden, die sich als ganz natürlicher Weg aufzutun scheint. Ich befrage Oberste und Soldaten und Küchenpersonal über Fischauflauf und Maschinengewehre, über den Sinn des Waffelteigs und die Geheimnisse der Nato.
Abends und nachts verstecke ich mich – und zwangshandele und ticse heimlich.
Aber ich besiege mich selbst, indem ich tagsüber unterwegs bin.
Ich bin nah dran, unehrenhaft entlassen zu werden, aus Gründen der Disziplin, was man aber nicht macht, denn da ist ja die Gefahr eines möglichen Krieges . Allerdings kommt der Krieg nie, und im Herbst 1985 verlasse ich die Truppe.
Ich kann es kaum glauben, aber das war eines der besten Jahre meines Lebens.
Aber jetzt bin ich frei, richtig frei. Das obligatorische Leben ist vorüber.
Jetzt bleibt nur noch das wirkliche Leben.
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