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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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schwarzen Ledertasche, wie Anton, ohne hochzusehen und ohne sich zu erheben, ein langes und kräftiges und lautes bäääääääh ausstößt.

    Absolute Stille in der Klasse. Wieder kriege ich eine Kugel an die Stirn, eine Kugel, die die Impulsstränge abschneidet, die Lust, die Langeweile, die Langsamkeit.

    Hat er bäääää , bäääää gesagt, wie ein Schaf?

    Ist es möglich, dass ein Lehrer so verrückt ist und mir, anstelle mit »Schluss jetzt, das ist nicht witzig«, mit einem bäääää antwortet?

    Meine Tics kriegen eine runtergehauen, sie verstummen, und ich beginne allmählich, mich der physischen Arbeit zu widmen. Natürlich bin ich zu schockiert, um die Aufgabe verstehen oder bewältigen zu können, aber ich versuche es zumindest – wunderbar schockiert und total verwirrt. Anton sieht nicht hinter der Tasche auf, nicht ein einziges Mal. Er schreibt weiter, als wäre nichts geschehen.

    Natürlich wird es zwischendurch noch einzelne muuuuuuhs geben. Aber die Angst vor einem weiteren unerwarteten bääää macht mich nervös und treibt mich um. Die Angst vor dem Unerwarteten siegt über mein eigenes Bedürfnis, die Laute aus dem Körper auszuleeren. Die Geräusche verschwinden nicht sofort, aber sie werden weniger, sie schrumpfen und werden gedämpft. Ich fühle mich nicht mehr so aufmüpfig und tough. Und mir ist nicht langweilig. Nicht mit Anton im Zimmer.

Das Selbstverständliche

    Die Noten verändern sich, ich lerne etwas, ich kann etwas werden. Was Richtiges.

    Anton will keinen Dank für meine guten Noten, und Geld will er auch nicht. Er lehnt überhaupt die meisten Sachen ab und begnügt sich mit einer Tüte Halspastillen und einer Partie Schach. Selbst wenn er Schach spielt, gurgelt er Halspastillen, was Papa verärgert. Papa findet, das Gurgeln würde seine Konzentration auf das Spiel beeinträchtigen, er behauptet, das sei die Hauptursache dafür, dass er zwei Donnerstage hintereinander verloren hat.

    Das unerwartete Verhalten von Anton überrumpelt mein Verhalten. Ein bääää lässt das Gehirn auf Tischtennisballgröße schrumpfen. Ein Match Geldbeutelhockey lässt mich im Werkraum platt auf dem Bauch landen. Nach einer Weile brauche ich die Geldbeutel nicht länger als Lockmittel, Antons physische Gegenwart bewirkt, dass ich sofort ins Klassenzimmer gehe, ganz gleich, welches Fach und zu welcher Tageszeit. Die Tics scheinen sich zu verstecken, oder sie wagen während Antons Unterrichtsstunden gar nicht erst aufzutauchen – sie wissen ja schließlich, was dann alles passieren kann.

    Ich weiß nicht, was in meinem Gehirn in diesen Situationen geschehen ist.

    Antons Art, mich lange anzusehen, den Blick nicht abzuwenden, die Stimme an der richtigen Stelle zu erheben und sie gleich danach wieder zu senken, die Halspastillen, der Lakritzgeruch.

    Lillemors direkte Art, ihr warmes Lachen, die Art sich zu bewegen, das Rezept, das ihr egal war, der Fiat, der Plastikeimer.

    Beide hatten etwas Unberechenbares an sich. Sie öffneten sich unerwartet, sie gaben mir neue Energie und einen Tritt in den Hintern. Sie respektierten mich. Der Respekt sitzt im Bauch, nicht im Kopf. Sie haben sich auch nie in eine Diskussion begeben, und sie haben nie gesagt, so ist es, und so wird es immer bleiben. Sie haben einfach überrascht. Sie waren so selbstverständlich, und sie haben nie gezögert.

    Antons Selbstverständliches:

    »Versprich mir, dass du immer weiter ja sagst, und dann wirst du später im Leben doppelt so viel dafür zurückbekommen. Das verspreche ich dir. Komm … darauf gebe ich dir meine Hand.«

    Lillemors Selbstverständliches:

    »Du hast angefangen«, und gleich darauf hatte ich einen Plastikeimer auf dem Kopf.

    Denn im Grunde ging es nur um eine Sache: Du kannst etwas, Junge.

    Was haben sie selbst gedacht? Ich habe es nie fragen können.

    Heute gibt es sie nicht mehr.

    Das tut ein wenig weh, aber vor allem tat es gut.

    Ich würde ihnen so gern eine große und lange Riesenumarmung geben, als Dank für die Hilfe, und ihnen ins Ohr flüstern, was die Wahrheit ist: Ja, ich habe doppelt so viel zurückbekommen.

    Lillemor saß in einem elektrischen Rollstuhl im Altersheim im Dorf. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Damals sah ich sie zum letzten Mal. Sie war so klein und schlief die meiste Zeit. Aber es war trotzdem Lillemor. Sie wusste nicht, wer ich war, aber das machte nichts. Anton habe ich vor vielleicht zehn Jahren kurz im Laden gesehen, im Weihnachtsstress.

    Zu Antons

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