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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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verschwinden. Und es geschieht, wenn ich es am wenigsten erwarte, und vor allem, wenn ich die Dinge nicht anfassen sollte. Die Langeweile muss befriedigt werden, sonst kocht sie über. Die Langeweile entsteht aus Unruhe, Wiederholung, Routine. Das Zucken im Bauch bekämpft die Langeweile durch Aktion. Die Aktion ist gleichbedeutend mit dem zuckenden Bedürfnis, Geldbeutel und Leder anzufassen. Also zuckt es … und ich nehme den Geldbeutel und befühle ihn, und dann werde ich ruhig. Der Inhalt des Geldbeutels ist mir wirklich völlig egal, Geld ist mir gleichgültig. Es sind Gefühl + Geruch + Material, die mich reizen.

    Es ist nur menschlich, wütend zu werden, wenn einer einem den Geldbeutel wegnimmt. Alle glauben, ich hätte vor, den Geldbeutel zu stehlen, ich würde bewusst lachen und sie lächerlich machen, und das alles vorsätzlich. Aber ich finde es überhaupt nicht lustig, sondern einfach nur schrecklich notwendig, während die Lehrer es alle furchtbar unnötig finden. Ein Zusammenstoß ist unvermeidlich. Das Gerücht verbreitet sich, aber es bleibt auf dem Schulhof und gelangt nie bis zu meiner Mutter und meinem Vater, die mehr damit beschäftigt sind, Hilfe zu suchen, als das Mysterium der taktilen Stimulierungsbedürfnisse ihres Sohnes zu lösen.

    Wir haben Werken. Anton beugt sich herunter, um zu zeigen, wie ich die Feile benutzen soll. Sein Geldbeutel leuchtet mir entgegen wie Apollo 3. Er ist schwarz und zerschlissen und wohlriechend. Zucken im Bauch , und der Geldbeutel ist nun in meiner Hand.

    Und was macht Anton? Gar nichts. Er bleibt stehen, sieht mich an, den Geldbeutel, dann mich und macht immer noch nichts. Ich denke: Sollte er nicht meinen linken Arm packen und mit mir die achtundneunzig Stufen zum wohlriechendsten und schönsten Backpflaumensofa der Schule raufgehen, wo ich einem weiteren zweiminütigen Mitmenschlichkeitsmonolog lauschen darf? Sollte, müsste er das nicht tun? Aber er tut es nicht. Er steht nur still da und sieht mir in die Augen. Mein Gehirn bekommt überhaupt nicht, was es erwartet. Es stellt sich eine etwas anstrengende Stille ein, als wäre ich jetzt dran zu handeln, etwas Unerwartetes zu tun, alle zu schockieren, jetzt mach schon . Ich kriege so einen Blick, der immer mehr dem eines schüchternen Labradors gleicht, und Anton sieht mir weiterhin direkt in die Augen, ernst und beleidigt, bestimmt und direkt. Dann durchbricht ein gurgelnd hartes Geräusch die anstrengende Stille – das ist Anton, der die Halspastille loslässt, die er in den vergangenen Minuten wohl unter der Zunge verstreckt hatte. Nun rollt sie weiter im Mund herum, beruhigend und provozierend zugleich.

    Anton tut etwas, was noch niemand zuvor gemacht hat – und zwar gar nichts. Und damit nicht genug, er macht einfach weiter damit. Denn plötzlich sagt er, beleidigt, direkt, ernst und völlig unerwartet:

    »Leg den Geldbeutel auf den Fußboden und zähle wie Wayne Gretzky von vierzig auf null runter. Während du zählst, gehe ich ins Lager und hole zwei Bretter.«

    Er geht ins Lager.

    Ich schaffe es nicht wirklich, zu denken oder zu analysieren, was er macht. Schon die Selbstverständlichkeit in seinem Verhalten macht, dass ich mit weit offenem Mund und Untertassenaugen den Geldbeutel vor mich auf den Fußboden lege und anfange, wie Wayne Gretzky von vierzig auf null runterzuzählen:

    »Forty, thirtynine, thirtyeight … twentytwo, twentyone, twenty, nineteen, eighteen …«

    Anton kommt wieder in den Raum. Jetzt hat er zwei etwa einen Meter lange Bretter dabei. Er gibt mir das eine Brett und sagt:

    »Die Bretter sind die Schläger, der Geldbeutel der Puck. Hier hast du deinen Schläger, dieser hier gehört mir. Jetzt bist du Wayne Gretzky und ich der Torwart der Nationalmannschaft. Jeder kriegt fünf Schuss. Wer das Match gewinnt, der darf entscheiden, was wir in den zwanzig Minuten nach dem Match machen.«

    Er zieht die hohen schwarzen Holzschuhe aus, stellt sie im Abstand von einem Meter auf und sagt:

    »Die Holzschuhe sie die Torpfosten. Wer fängt an? Du? Gut.«

    Im Moment bin ich eigentlich zu sehr verwirrt, um einen Siegerkopf zu haben. Aber ich sehe seine Augen und die Halspastille, die zwischen den Zähnen wandert, und seine ziemlich fadenscheinigen Strümpfe, und da ist es, als würden mir Wayne Gretzky und Anton oder der Lakritzgeruch den Mut verleihen, wirklich etwas zu schaffen, das Match zu gewinnen, die Strafstöße zu verwandeln, die Schule und das Dorf und die ganze Welt zu

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