Herr Tourette und ich
Tabletten sind. Er leidet unter Bluthochdruck, das hier können blutdrucksenkende Medikamente sein. Ich rufe zu Hause an und berichte von meinem Fund, und man sagt mir, ich solle die Tüte mit nach Hause bringen. Die Tabletten enthielten ziemlich starke Sachen, Narkotika. Man werde sie auf jeden Fall wegwerfen beziehungsweise der örtlichen Apotheke zurückgeben. Ich verspreche, sie so schnell wie möglich mit nach Hause zu bringen, was ich natürlich vergesse. Und diese »Narkotika« werden mehr als zwei Jahre lang sicher verwahrt in der Ledertasche liegen.
Die Gedanken kommen, die Tics gehen. An manchen Tagen übernehmen die Tics, noch ehe die Gedanken gegangen sind. Verglichen mit den Gedanken in meinem Kopf bin ich der reinste Amateurdichter. Sie tun sich immer noch vor allem als professionelle Glückstöter hervor. Sie tauchen auf, nicht intensiv, aber dauerhaft, ein wenig abhängig von Laune oder Stress oder allgemeiner Unruhe. Manche Rituale haben sich so tief in den Kopf gebohrt, dass sie inzwischen anfangen, ein beschwerlicher und natürlicher Teil meines Verhaltens zu werden. Ich will nicht einsehen, dass es mir nicht so wahnsinnig gut geht und dass die Verrücktheit im Kopf eine Krankheit sein kann. Ich fühle mich nicht krank, nur verwirrt, ich gehe einfach herum und verbringe zu viel Zeit mit schlechten Angewohnheiten. Lebe stattdessen das Leben, mache etwas anderes, arbeite, lerne, arbeite mit dem Körper. Schwitze Gedanken, Tics und Rituale aus dir heraus, dann lässt sich das Leben leichter aushalten, das wirst du schon merken. Yes Sir . Außerdem werden Gedanken und Rituale schon bald mein Gehirn verlassen und woanders einziehen, vielleicht haben sie es ja verdammt langweilig da oben, es gibt so viele andere Hirne, die man terrorisieren kann und die garantiert einen größeren Kick bringen als meines. Ich entscheide mich ganz einfach für den Gedanken, dass eines Tages alles verschwinden wird.
Ich suche mir Jobs, bei denen das Gehirn abgeschaltet werden kann, und da ich keine Ausbildung habe, habe ich auch gar keine andere Wahl. Es gibt jede Menge hirnloser Jobs. Ich kann einfach zu einem Arbeitgeber gehen und fragen, ob er einen Job hat, und er wird einen haben. Das Land befindet sich in einer brutalen Hochkonjunktur, die Krone wird immer stärker, und es gibt Jobs wie Sand am Meer. Vor allem diese hirnlosen Jobs. Weil die Radioausbildung abends stattfindet, ist es wichtig, tagsüber einen hirnlosen und möglichst harmlosen Job zu haben. Also rufe ich die Jobzentrale an, werde an die Lager- und Botenabteilung, auch Lügner- und Buddha-Abteilung genannt, weitergeleitet.
Ich kriege augenblicklich einen Job. In einer Bäckerei.
Meine Hauptaufgabe ist es zu sortieren. Das bedeutet, ich bin dafür verantwortlich, dass die Brötchen von den Ofenkarren zu den Abschlusskarren, vier Meter weiter rechts, verfrachtet werden. Ich soll also frische Rosenbrötchen, Zimtschnecken und Rosinenbrötchen von einer Karre zur anderen tragen. Rosenbrötchen auf einem Blech, Zimtschnecken auf einem anderen, Rosinenbrötchen auf einem dritten. Die Einstellungsvoraussetzungen liegen also auf der Hand, der Angestellte muss den Unterschied zwischen einem Rosenbrötchen, einer Zimtschnecke und einem Rosinenbrötchen erkennen können.
»Hast du die Logik der Arbeit jetzt verstanden?«, fragt Johansen, ein fünfundfünfzig Jahre alter Mann, der sicher seit hundertfünfundzwanzig Jahren in der Bäckerei arbeitet. Er weiß alles, sagt man. Sie behaupten sogar, dass er auf zehn Meter Entfernung ein Rosenbrötchen von einem Rosinenbrötchen am Geruch unterscheiden kann.
Johansen hält ein Rosenbrötchen vor dem ganzen Personal hoch. Er sieht mich an und fragt ernst und bestimmt:
»Und was haben wir hier?«
Ich antworte:
»Ein Rosenbrötchen.«
»Genau«, kommentiert Johansen ein wenig enttäuscht, ehe er versucht, den nächsten neuen Angestellten zu testen.
»Und was haben wir hier?« Sekunden später: »Genau, eine Zimtschnecke.«
Abgesehen vom Grundprinzip, nämlich die verschiedenen Brötchensorten visuell unterscheiden zu können, gehört es auch zum Arbeitsprozess, jede Brötchensorte vor sich zu platzieren, und zwar auf zehn Blechen, die wiederum in einen anderen Karren einsortiert werden sollen. Auf jedem Blech sollen sechsunddreißig Brötchen liegen. Mein Job besteht also, kurz gesagt, darin, den Unterschied zwischen den Brötchen zu erkennen und dann sechsunddreißig Brötchen auf zehn Bleche zu
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