Herr Tourette und ich
du Wahnsinniger. Noch mal. Wiederholen. Wieder symmetrisch zurück. Für jeden missglückten Versuch bestrafe ich mich selbst, indem ich neun Meter zulege. Auf diese Weise komme ich, je öfter ich scheitere, immer weiter von der Tür weg. An einem schlechten Tag kann ich einen Kilometer von der Türschwelle entfernt landen, die ich überschreiten möchte. An einem guten Tag sind es maximal neun Meter.
Das Türritual taucht bei der Arbeit, in der Schule, zu Hause im Zimmer auf, aber es nimmt nicht zu viel Raum oder Zeit ein. Vielleicht muss ich es einmal im Monat durchführen, vielleicht viermal, und manchmal fünfmal am Tag. Aber ich glaube, es unter Kontrolle zu haben.
Die Tontechnikerschule und ich
Die Ausbildung findet an drei Abenden in der Woche statt. Wir sind zu zwölft, elf aus der Hauptstadt und ich. Wir sitzen wie in einem Klassenzimmer – Bankreihen und Stühle, immer zu zweit, Tafel und Kreide und ein übergewichtiger Chefproduzent als Lehrer.
Es ist ziemlich viel Theorie. Lichtdioden, Ampere, Volt, Umrechnungen – überhaupt nicht, was ich erwartet habe. Ich will Regler hochschieben, Geräusche hervorbringen, Radioprogramme machen, Wichtigkeiten in ein Mikrofon sprechen.
Ich komme im Unterricht nicht mit. Die Konzentration schwankt hin und her, vor und zurück. Meine Sinne fangen an, auf Hochtouren zu arbeiten, ich habe das Gefühl, wieder vierzehn zu sein. Im Klassenzimmer riecht es nach muffiger Feuchtigkeit, die Hauptstadtstimmen schneiden mir ins Gehör, z wird x, y wird Messer, Blut wird rot, rot wird Gehirnflüssigkeit. Ich fange wieder an, in meinem eigenen Gedankenbrei herumzuschwimmen. Die Routinen schleichen sich an, und Tics und Rituale rauben mir immer mehr die Konzentration auf den Unterricht. Nach nur wenigen Wochen merke ich, dass die Zwänge mein Verhalten zu bestimmen beginnen. Es fällt mir schwer, mich richtig auf den Stuhl zu setzen, normal über die Türschwelle zu gehen, den Stift richtig zu halten, das x richtig zu schreiben, das y richtig, das z auf richtige Weise wegzuradieren. Ich schaffe es nicht, die Aufgaben rechtzeitig zu erledigen, ebenso wenig, wie ich schriftliche Arbeiten im Klassenzimmer rechtzeitig abschließen oder beginnen kann, und dann ist da der verdammte muffige Geruch, zum Teufel …
Das einfache und unkomplizierte Verhältnis der anderen zu mathematischen Rechnungen und ihr selbstsicheres Auftreten geben mir noch mehr das Gefühl, unterlegen zu sein. Meine Rituale erschweren das Leichte und erleichtern das Schwere. Ich habe sogar mit den praktischen Übungen Schwierigkeiten, die doch im Grunde genommen Kindergartenniveau haben, worauf der Chefproduzent auch oft genug hinweist. Der Chefproduzent bewegt sich kaum, sitzt am Schreibtisch, murmelt, schreibt, indem er langsam den Körper verdreht. Das Einzige, was ihn visuell von einem Walross unterscheidet, sind die Zähne. Und wenn er den Körper erhebt, um in die Teeküche zu gehen, kann ich nicht umhin, dieses Loch in der Hose zu bemerken, genau an der Stelle, wo die linke Pohälfte in die rechte übergeht, wie ein Kreisel im Verkehr. Außer mir scheint niemand das Kreiselloch im Hosenboden des Chefproduzenten bemerkt zu haben. Aber es ist doch unmöglich, es nicht zu bemerken, aber niemand wagt etwas zu sagen, weil der Chefproduzent für die Ausbildung der Musikproduzenten verantwortlich ist, es gilt also, als Erster in seinen Arsch zu kriechen. Aber niemand sagt etwas, wenn ich ticse und das Kreiselloch am Kaffeeautomaten kommentiere. Man wirft mir nur Blicke zu, Tontechnikerblicke – Augen zusammengekniffen und Münder geschlossen.
Das Loch in der Hose des Chefproduzenten produziert ein noch größeres Loch in meinem Gedankensystem, das jetzt Abend für Abend, Woche um Woche in Gang gebracht wird. Das Loch in der Hose …
... das zum Anus führt, in den er seine Finger steckt, mit denen er mir dann zur Begrüßung die Hand gibt, mit denen er dann die anderen in der Klasse begrüßt, die gern ihre Finger in seine Hosenlöcher stecken, die ihre Finger weiter in seinen Anus schieben, der voller Scheiße ist und Ansteckung und Bakterien und Blut und rot und Tod …
Also vermeide ich Körperkontakt mit den anderen in der Klasse, vor allem mit denen, die am meisten mit dem Oberwalross reden. Ich versuche, Blickkontakt mit ihm zu vermeiden und möglichst nicht dieselbe Luft einzuatmen, die er ausatmet. Ich fasse möglichst nicht an den Kaffeeautomaten, die Türklinke, den Wasserhahn, die Toilette,
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