Herr Tourette und ich
verteilen, die sich dann in einem anderen Karren ausruhen können. Diese Arbeit muss ausgeführt werden, solange die Brötchen frisch sind, jeden Tag zwischen 5.00 Uhr und 12.00 Uhr. Meine offizielle Berufsbezeichnung ist Sorter/Praktikant. Aber ich kann Arbeit bekommen, solange ich will, lebenslänglich, wenn ich es wünsche. Ich bin zufrieden, das ist für den Moment ein perfekter Job – leicht verdientes Geld, angenehme Arbeitszeit, und ich habe noch Zeit für die Radioausbildung am Abend. Das fühlt sich gut an, einfach, schlichtweg bequem.
Nach der Arbeit gehe ich nach Hause und versuche, mich auf dem Bettsofa auszuruhen. Aber die Gedanken wollen nicht ruhen. Der Körper sehnt sich immer nach Ruhe, aber die Gedanken scheinen diese Vorstellung zu hassen. Also bekomme ich keine Ruhe. Stattdessen trinke ich eine Tasse Kaffee und wärme die Tomatensuppe auf, die aufzuessen ich gestern vergessen habe. Die Electroluxplatte macht einen Superjob. Nach Tomatensuppe und Kaffee nehme ich die Straßenbahn ins Zentrum, steige an der Haltestelle Grönland aus und spaziere zu einem gelben Gebäude hinauf, auf dessen Klingelschild Nationale Tontechnikerschule steht. Endlich. Endlich werde ich etwas sein. Meine Identität ist nicht nur darauf gegründet, den Unterschied zwischen Rosenbrötchen und Rosinenbrötchen zu erkennen. Oder Zimtschnecken.
Wie man über eine Türschwelle geht
Ich fange an Probleme damit zu haben, über Türschwellen zu gehen, mich auf Stühle zu setzen und über wichtige Striche zu treten. Das Gefühl schleicht sich ein, und ich kann nicht erklären, warum. Wenn ich die Türschwellen nicht auf die richtige Weise überschreite, dann können Dinge geschehen. Dinge, die mein Leben, meine Persönlichkeit und die Menschen beeinträchtigen, die mir nahestehen. Teile des Türrituals begleiten mich schon seit vielen Jahren. Zum Beispiel die Zahl neun. Eine gute Zahl. Wenn es etwas Gutes gibt, gibt es aber gleichzeitig auch etwas Böses. Sechs ist eine böse Zahl. Erklärung:
Wenn die Neun ein Mensch ist, und man stellt den Menschen auf den Kopf, dann läuft das Blut ins Gehirn, das Gehirn wird von einer Blutansammlung zerstört und man stirbt. Eine auf den Kopf gestellte Neun wird zu einer Sechs. Die Zahl neun ist gut, sechs ist böse. Also kann ich die Zahl sechs nicht sagen oder schreiben.
Und wie zähle ich dann bis neun?
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun? Nein. Denn dann ist ja die sechs dabei.
Die richtige Antwort lautet: eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier = neun.
Dasselbe Resultat, aber ein anderer Weg zur Zahl neun.
Auch die Farbe rot ist schon seit langem dabei. Erklärung: rot = Süden = Wärme = erzeugt Schweiß = erzeugt Bakterien = erzeugt Krankheiten = erzeugt Tod = böse Farbe.
Rote Farbe ist eine tote Farbe ist eine böse Farbe.
Blau hingegen ist eine gute Farbe: blau = Norden = Kälte = kein Schweiß = keine Bakterien = keine Krankheit = niemand stirbt = gute Farbe.
Über eine Türschwelle gehen:
Vier, fünf oder neun Meter von der Tür entfernt stehenbleiben. Hoch sehen, den Türrahmen betrachten.
Nach einem blauen Punkt suchen (blau = gute Farbe).
Gibt es keinen sichtbaren blauen Punkt, dann denke ich mir einen aus, so dass es also immer einen blauen Punkt gibt.
Dann bleibe ich zum Beispiel fünf Meter von der Tür entfernt stehen, schaue auf einen blauen Punkt, hebe das linke Bein (auf der linken Seite des alten Handwaschbeckens saß der Kaltwasserhahn = Kälte = blau = gute Farbe).
Ich bleibe also fünf Meter von der Tür entfernt stehen, schaue auf einen blauen Punkt, hebe das linke Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad (fünfundvierzig = vier + fünf = neun = gute Zahl).
Ich bleibe also fünf Meter von der Tür entfernt stehen, schaue auf einen blauen Punkt, hebe das Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad und fange an, auf die Tür zuzugehen. Während ich gehe, zähle ich: eins, zwei, drei, vier, fünf, und wenn ich die Türschwelle überschreite, hebe ich das Bein, sage plus (+) und fahre mit eins, zwei, drei, vier fort. Klar soweit?
Aber hat es sich richtig angefühlt? Wann fühlt es sich richtig an? Wenn es falsch wird. Was war falsch? Zweifel. Habe ich wirklich »plus« gesagt, als das linke Bein über die Türschwelle ging, hat der Fuß nicht zufällig die Türschwelle passiert, ehe ich »plus« gesagt habe, oder war es ein wenig danach?
Zweifel. Unruhe. Die Angst steigt in mir hoch. Zurück. Zurück,
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