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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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den Plattenspieler, ich vermeide alles, was er angefasst haben könnte, anfasst und anfassen wird, vermeide alles, was das Oberwalross mit seinem Hinternscheiß und seinem Handschweiß, den er um sich verbreitet, verseucht haben könnte.

    Zeitweilig tröstet mich meine Ticsverbalität. Ich kann die Leute – die Tontechniker – dazu bringen, während des Unterrichts ein klein wenig zu lächeln, und das ist verdammt noch mal nicht leicht. Aber in drei von fünf Fällen gelingt es mir, was zunächst einmal meinen Status verbessert: »Er ist schnell und wendig, ein typischer Radiofritze.« Pointen zu bringen wird für mich eine weitere Art, mir eine Auszeit im Kampf gegen die Rituale zu verschaffen. Ich weiß, dass mein Verhalten natürlich ist – ich kann einfach nicht verhindern, dass mein Mundwerk schneller ist als die Vernunft –, aber es geschieht immer öfter, dass ich den Witz als eine Methode benutze, zu fliehen, was die anderen in der Klasse langsam merken. Ich stehe neben dem Kaffeeautomaten und blubbere los, denke wissenschaftlich darüber nach, warum alle Musikproduzenten heftig übergewichtig sind, aber trotzdem in engen Hosen rumlaufen. Als wollten sie ihre Fettleibigkeit noch hervorheben, als ob wir anderen sie nicht schon längst bemerkt hätten. »Warum?«, frage ich, »warum?«

    Aber die Reaktionen sind minimal. Sie lachen nicht mehr spontan, schauen mich ein wenig schief an und reden stattdessen weiter miteinander. Die Einzige, die antwortet, ist eine etwas kleinere Walrossdame mit ausgeprägtem Hauptstadtdialekt.

    »Dann bist du also der magere Stecknadelkopf von einem Radioproduzenten aus dem Norden?«

    Ich glaube nicht, dass es wirklich als Frage gemeint war.

    Schon nach ein paar Wochen haben sich in der Klasse zwei Fraktionen gebildet. Eine Fettfraktion und eine Magerfraktion. Die Musiktechniker gegen die Radiotechniker. Wir sind nur drei, die aufs Radio setzen wollen, drei magere Typen, die zusammenhalten. Wenn wir nach der Schule in eine Kneipe gehen, dann sind es immer wir drei Radiotypen, die lachend und herumblödelnd an der Bar landen, während sich der Rest der Mannschaft in die Sofaecke setzt, wo sie den tam-tam- Trommelsound auf der letzten Platte von Toto auseinandernehmen und sich bald einig sind, dass er das Klangbild total vergewaltigt.

    Für mich läuft es nur gut, wenn man jemanden braucht, der während des Studiounterrichts in ein Mikrofon sprechen kann. Da löst sich alles. Ich rede drauflos, meist eine Fortentwicklung meiner Übergewichtstheorie, der Unterschied zwischen Gerippe und Fettsack, warum der Sänger von Toto fett ist, während sein Kollege bei New Order bohnenstangenmager ist – das ist so das Niveau, auf dem sich die Monologe abspielen. Aber ich rede drauflos, und hin und wieder ernte ich Lacher. Selbst das Oberwalross lächelt widerwillig und sagt: »Solltest du nicht dein Mundwerk benutzen statt deiner Hände?«

    Je größere Verbalwellen aus mir herausschwappen, desto ruhiger fühle ich mich hinterher. Als würde die Freiheit in einem zehnminütigen hemmungslosen Verbaltic dieselbe Wirkung auf den Körper haben wie eine doppelte Dosis Valium. So gesehen hat das Oberwalross vielleicht Recht – vielleicht sollte ich mich dem Wort widmen statt der Technik, der Ruhe und nicht dem Chaos. Nach diesem Rat begreife ich, dass nicht ich es bin, der das Oberwalross nicht mag, sondern die Zwangsgedanken.

Der Lügner – und Buddhajob

    Langsam macht sich in mir ein Gefühl des Scheiterns breit. Ich hatte angenommen, dass die Kombination aus Studien und Arbeit mich von Zwang und Ritualen und Tics befreien würde. Aber jetzt scheint mich alles wieder eingeholt zu haben. Ich gerate immer wieder in Phasen der Schwermut, bin enttäuscht darüber, dass es mir so gar nicht besser geht. Das hier ist nur eine neue Version der alten Misere, die jetzt wieder einmal mein Gehirn und mein neues Leben besetzt.

    Der Job in der Bäckerei funktioniert ein wenig besser als die Schule, doch nach ein paar Wochen geschieht dort Seltsames.

    Ich setze vierunddreißig Brötchen auf das Blech anstatt sechsunddreißig. Sechs ist einfach keine gute Zahl. Niemand hinterfragt meine kleine Improvisation, und ich komme davon. Anfangs habe ich vorgehabt, neununddreißig Brötchen auf dem Blech zu platzieren, aber das wäre sehr schnell bemerkt worden, da das Blech für sechsunddreißig konstruiert ist. Vierunddreißig liegt näher an sechsunddreißig als neununddreißig. Und die Zahl Vier steht

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