Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
Vom Netzwerk:
Haar, die weiße Haut, die übertrieben roten Lippen, eine Albinoausführung von Joan Collins. Zucken im Bauch .

    Ein paar Minuten später stehe ich vor einem großen, heruntergekommenen Schloss, einer dunklen Holzvilla. Smestad Allé 4. Kleine gelbe Lämpchen beleuchten den Eingang, als wäre es der Eingang zu einem Restaurant oder Lokal der vornehmeren Sorte. Das Haus ist dunkel, abgesehen von der ersten Etage und einem kleinen roten Licht, dass einen großen Raum oben in der dritten Etage schwach erleuchtet. Ich betrete den Garten. In Dunkelheit und Nieselregen können sie mich sowieso nicht sehen. Der Fernseher ist eingeschaltet, aber man sieht nur das Teletextangebot. Ich stelle mich vor das größte Fenster. Man hört die Geräusche vom Fernseher, aber das Wohnzimmer ist leer. Ich lehne mich an einen Apfelbaum, warte, warte länger, versuche sie vor mir zu sehen und mich an ihre Art zu erinnern. Es vergehen mindestens zehn Minuten, ehe sie ins Wohnzimmer kommt. Jetzt trägt sie das weiße Haar in einem Pferdeschwanz und geht in einer Art Overall herum und sieht aus wie Joan Collins in Denver Clan . Über dem Overall trägt sie einen langen Seidenmantel oder Morgenrock, ich kann es nicht genau sehen. Sie bleibt stehen und schaut flüchtig auf den Bildschirm, ehe sie in ein anderes Zimmer geht. Nach weiteren fünf Minuten kommt sie zurück, jetzt ein Brot in der einen Hand und ein Glas Saft in der anderen. Sie setzt sich in einen Sessel, verdammt, mit dem Rücken zu mir. Ich kann nur den weißen Pferdeschwanz sehen, der sich über die Rückenlehne geschlängelt hat und mich wie eine aggressive Albinoschlange ansieht. Nach vielleicht zwanzig Minuten wird mir klar, dass sie wohl allein zu Hause ist. Sie scheint auf niemanden zu warten, und sie spricht auch mit niemandem. Zucken im Bauch .

    Ich drücke die Nase des Löwenkopfs ein, die Klingel. Es scheint nicht zu klingeln, also wiederhole ich das Nasendrücken. Drinnen im Haus sind Schritte zu hören. Ich kann sehen, wie sie stehen bleibt und herauszufinden versucht, wer es sein könnte, ehe sie sich entschließt, die Tür zu öffnen.

    »Ah so …«, sagt sie, als sie meiner ansichtig wird. Sie scheint nicht im Geringsten überrascht, sondern wirkt, als hätten wir einen Termin und sie wäre ein wenig verärgert, weil ich erst jetzt komme.

    »Komm rein«, sagt sie und macht die Tür hinter mir zu, so dass ich reingehen muss, ehe ich fertig ritualisiert habe. Ich schaffe es nicht, nachzudenken oder zu argumentieren.

    Ich mache das einzig Richtige – öffne die Tür und trete schnell neun Zentimeter zurück. Eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier Zentimeter von der Tür weg, blauen Fleck anschauen, linkes Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad anheben, eins, zwei, drei, vier, fünf, über die Türschwelle + eins, zwei, drei, vier.

    Ich lande gleich beim ersten Versuch sicher in der Diele. Kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Türschwelle im ersten Versuch überquert habe. Ich empfinde große Erleichterung – Zucken im Bauch, Geräusch .

    Die Frau in Weiß, die Vibeke irgendwas heißt, steht neben einem riesigen Spiegel und sieht mich an. Ich wage nicht, Schuhe oder Mantel auszuziehen, denn ich habe Angst, sie nicht wieder anziehen zu können.

    »Wohnzimmer«, sagt sie und fügt ein »Bitteschön« hinzu.

    Wir gehen durch einen langen Flur. An den Wänden hängen unverständliche Bilder und schwarzweiße Skizzen. Im Wohnzimmer stehen einige kleinere Skulpturen herum, wie in einem Museum oder einer Kunsthalle, einer modernen Kunsthalle für moderne Menschen. Doch es handelt sich ganz eindeutig um ihr Zuhause, da sind der Fernseher und Möbel und Bücherregale, und auf dem Fußboden sind kleine Spielsachen verstreut. Das Wohnzimmer riecht nach Kiefer, Kiefer oder frische Asche. Ich stelle mich mitten vor das große Fenster und sehe mich schnell im Raum um. Mein Blick bleibt am Couchtisch hängen und an einer langen gelben Maispfeife, die in einem Aschenbecher ruht. Der Aschenbecher stellt einen Glaslöwen dar, der mit gespreizten Beinen auf dem Rücken liegt, und er ist offensichtlich so konstruiert, dass man seine Zigarette im Geschlechtsteil des Löwen ausdrücken soll. Genau zwischen den Beinen des Löwen liegt das Mundstück der Maispfeife. Plötzlich verspüre ich ein unangenehmes Zucken im Bauch. Habe ich wirklich auf einen blauen Punkt über dem Türrahmen geschaut, als ich die Türschwelle überquert habe?

Weitere Kostenlose Bücher