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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Zweifel = Wiederholung. Und um auf der sicheren Seite zu sein – Türschwellenritual JETZT wiederholen. Als ich das Wohnzimmer verlasse, lächele ich der Frau in Weiß zu und entschuldige mich. »Ich will nur Bescheid sagen, dass das Taxi nicht wartet …«

    Eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier Zentimeter von der Eingangstür, auf blauen Punkt schauen, linkes Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad, eins, zwei, drei, vier, fünf, über die Türschwelle + eins, zwei, drei, vier. Ich schaffe es beim dritten Versuch. Schön, wunderbar, einmal ein wenig voranzukommen. Als ich ins Wohnzimmer komme, steht Vibeke an einen Pfeiler gelehnt, einen Pfeiler, der das Wohnzimmer in zwei gleichgroße Teile teilt, und an den Pfeiler hat sie etwas gehängt, was afrikanische Speere und magische Tiermasken sein müssen. Sie sieht mich an, ernst, abschätzend, als würde sie mein Äußeres, meine Art rezensieren. Genehmigt, nicht genehmigt, normal, unnormal? Sie hat das Glas mit dem rot gefärbten Saft in der Hand, mit der anderen rückt sie die Frisur zurecht.

    »Ich dachte, du würdest früher kommen«, sagt sie.

    »Viel … viel zu tun bei der Arbeit«, lüge ich.

    »Lüg nicht. Du hast vor ein paar Monaten aufgehört. Ich habe mich nach dir erkundigt.«

    »Ach so? Genau. Jetzt arbeite ich beim … beim Radio.«

    »Aber du bist ja trotzdem gekommen. Ich wusste, dass du kommen würdest. Sollen wir anfangen?«

    »Anfangen?«

    »Ich würd gern sofort anfangen, doch, wir fangen an.«

    Ich schaffe es nicht, darüber nachzudenken, was sie gern würde, außer dass sie offensichtlich anfangen will. Ihre Art ist unvorhersagbar und überzeugend. Und mir gefällt das. Sie führt mich weiter, ich schaffe es nicht, nachzudenken, schaffe es nicht, zu ritualisieren, und ich kriege ein paar Minuten Auszeit von der Gedankenhölle.

    Wir gehen eine lange und breite, aber extrem gewundene alte Treppe hinauf. Drei Stockwerke später öffnet Vibeke die Tür zu einem großen Zimmer mit schwacher Beleuchtung, weißem Holzfußboden, kleinen Lampen an der Decke und einer riesigen, matratzenähnlichen Sache mitten im Zimmer. Auch die Wände sind weiß. Hier und da hängen im Zimmer an den Wänden und unter der Decke afrikanische oder indische oder chinesische Tiermasken. Mitten im Raum steht eine Staffelei.

    »Ich ziehe mich eben um«, sagt sie und verlässt den Raum.

    Ich bleibe einfach stehen, schaffe es nicht, nachzudenken oder zu analysieren, stehe einfach da. Vielleicht eine Minute, vielleicht drei, vielleicht acht. Als Vibeke zurückkommt, trägt sie einen weißen Morgenrock.

    »Die erste Tür rechts ist das Badezimmer«, sagt sie. Aber ich bleibe stehen, denke oder denke nicht, ich weiß nicht, was ich tue, ich bleibe auf jeden Fall mal stehen. Sie öffnet etwas, was wie ein großer Schrank aussieht, ein begehbarer Schrank, wie der, in dem Gene Hackman sich in The Pretender versteckt. Sie geht in den Schrank und scheint nach etwas zu suchen, wiederholt derweil noch einmal, dass das Badezimmer die erste Tür rechts ist, und fügt hinzu:

    »Aber du darfst dich auch gern hier drinnen ausziehen …«

    Ich bleibe stehen, die Füße am Boden angewachsen. Ich wage nicht, zwei Türschwellen ins Badezimmer zu überqueren, um dann womöglich da drin festzusitzen. Sie würde mich für einen Verrückten halten und bestenfalls die Polizei rufen oder mich rausschmeißen.

    Jetzt im Moment habe ich eine Pause von den Routinen und den Wanderungen. Diese Pause brauche ich, und ich möchte sie gern ausdehnen. Ich habe eigentlich nichts zu sagen, die Frau in Weiß fragt nicht, sie stellt auch nichts in Frage, sondern lenkt einfach. Und mir gefällt das. Vielleicht gefällt es mir, gesteuert zu werden, aber vor allem habe ich meinen Frieden, ich darf mich jetzt wie ein normaler Mann verhalten, ein normaler Mensch. Ich schlendere langsam zur Matratze, setze mich darauf, beginne mich auszuziehen, und ich bleibe nicht stecken.

    Ich erinnere mich nicht, wann ich mich das letzte Mal selbst nackt gesehen habe. Ich erinnere mich nicht, geduscht zu haben, seit ich in die Hauptstadt gezogen bin. Sicher weiß ich, dass ich in den vergangenen zwei Monaten nicht nackt unter fließendem Wasser gestanden habe, aber ich habe mich gewaschen, unter den Armen und auch im Gesicht und die Haare, aber die letzten zwei Wochen nicht, aber ich wasche mich immer noch, ja, das tue ich. Und ich habe Weihnachten zu Hause im Dorf geduscht, aber da habe ich nicht

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