Herr Tourette und ich
über meinen eigenen Körper nachgedacht, so wie jetzt, wie die Frau in Weiß es bald tun wird. Ich betrachte meine blasse Haut, meine vernarbten Arme und die behaarten Beine. Und ich rieche nach Schweiß. Ich rieche wirklich richtig nach Schweiß. Aber ich schäme mich nicht. Ich verlasse mich darauf, dass die Frau in Weiß etwas mit mir vorhat, und wenn eine Frau, die mindestens fünfzehn Jahre älter ist als ich, mich auf ihrer dicken Matratze in ihrem schlossigen Haus nackt sehen will, dann muss das bedeuten, dass sie meinem Körper eine gute Zensur gibt, eine Zensur, wie ich sie seit ziemlich vielen Jahren nicht bekommen habe.
Ich habe immer noch meine Unterhose an. Ich habe ein wenig Angst, dass die Rückstände des Stuhlgangs sich in meiner blauen Unterhose eintätowiert haben, aber ich kann nicht viel nachdenken, die Frau in Weiß unterbricht meinen Gedankengang:
»So, jetzt will ich dich mal ansehen …«
Sie nimmt hinter der Staffelei Platz, auf die sie jetzt einen großen Zeichenblock gestellt hat. In den Taschen des Morgenrocks hat sie Filzstifte und Bleistifte. Nun kommt sie langsam auf mich zu. Sie setzt sich neben mich auf die Matratze. Sie betrachtet meinen Körper, während sie ihre Haare richtet, dann holt sie aus der Manteltasche, aus der Stifte herausschauen, eine weitere gelbe, schmale Maispfeife. Sie ist schon mit Gras gefüllt. Sie steht auf, geht zum Fenster, zündet die Pfeife an und zieht wieder und wieder daran. Dann fährt sie fort, mich zu betrachten. Vielleicht sollte ich mich gestresst fühlen, aber ich habe seit langem nicht so viel Ruhe verspürt. Ich bin mehr stolz als ruhig, mehr siegesgewiss als geschlagen. Die Gedanken kommen nicht heran, die Rituale scheinen mich zu beobachten, mich, die Matratze, sie und die Pfeife.
»Einen Zug? Willst du einen Zug?«
Ich weiß nicht, ob ich etwas sage, wahrscheinlich schüttele ich nur den Kopf.
Sie nimmt selbst ein paar tiefe Züge, und dann kommt sie wieder zu mir. Sie betrachtet mich von der Seite, scheint extrem konzentriert, offenbar hat sie schon entschieden, was sie haben will. Während sie mein Gesicht betrachtet, sagt sie:
»Das Erste, was mir aufgefallen ist, war deine Art, dich zu bewegen, deine Zuckungen, die Form des Gesichts, der dunkle Blick … warum zuckst du auf diese Weise, hebst das Bein … du siehst nicht so aus, als wärst du von hier … deine Nase, die ist klassisch … mir wäre es lieber, wenn du gar keine Kleider anhättest.«
Ich verharre in derselben unsicheren Stellung auf der Matratzenkante. Ich weiß nicht, ob ich jetzt die Unterhose ausziehen soll oder nicht, ob ich sie bitten soll, die Schnauze zu halten oder nicht, ob ich lachen soll oder nicht. Ich weiß es nicht, aber ich will, dass sie das mit dem Nacktsein doch noch einmal wiederholen soll. Sie bittet mich nicht, mich zu bewegen, sie scheint mehr an die Skizze als an mich zu denken. Ab und zu wirft sie mir einen Blick zu, korrigiert oder kommentiert aber nichts. Sie arbeitet schweigend. Ein Bleistift fällt ihr auf die Erde, und als sie sich danach bückt, sehe ich, dass sie unter dem Morgenrock nackt ist. Aber sie macht gar kein Aufhebens davon, und sie verliert den Bleistift auch nicht absichtlich. Aber sie scheint zu kapieren, dass ich kapiert habe.
Sie macht eine Pause und zündet die Pfeife auf exakt dieselbe Weise an wie vorher.
»Willst du einen Drink? Cognac, Wein … roten?«
»Southern Comfort«, sage ich, ohne zu denken, dass ich das sagen werde.
Zum ersten Mal an diesem Abend lächelt sie.
»Gut … na also … bleib sitzen …«
Ich denke, dass sie nun meinen Southern Comfort holen wird, aber sie zündet noch mal die Pfeife an.
»Nimm einen Zug. Komm …«
Ich stehe reflexmäßig auf, sage ebenso reflexmäßig:
»Was?«
»Einen Zug … du bist doch kein Kind mehr, was?«
Ich gehe zu ihr, versuche die Arme ungezwungen hängen zu lassen, ich will schließlich nicht, dass sie meinen Körper auch als kindlich ansieht. Ich nehme einen Zug, aber das ist, als würde man altes Amalgam inhalieren. Es fällt mir schwer, einen Genuss darin zu erkennen, und am liebsten würde ich den Scheiß ausspucken.
»Setz dich«, sagt sie, wieder in diesem Kommandoton.
Diese entschiedene Art gefällt mir. Sie verwirrt mich, die Verwirrung gefällt mir noch besser als sie, aber ich akzeptiere doch ihren Ton. Noch eine weitere halbe Stunde bleibe ich in derselben Stellung sitzen.
Sie legt Filzstifte, Bleistifte, Radiergummi
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