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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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wenn man nicht bewusst danach sucht. Ich habe keinen Arbeitgeber mehr, der mich kontrolliert, der meine Kleider kommentiert oder sich darum schert, wie repräsentativ ich aussehe, also gibt es an der Kleiderfront nichts Neues.

    Wäre ich ein Zauberer, dann könnte ich mich vielleicht aus dem Würgegriff zaubern und mir schwupp einen neuen Job suchen. Aber das ist jetzt durch. Ich begreife, dass ich nun weiterhin von Rippchen und Saft leben und mit dem zu erwartenden Zeitungsausträgerlohn zurechtkommen muss. Außerdem warte ich auf Urlaubsgeld vom Plattenladen und der Bäckerei, von der Marzipanfabrik und dem Anwaltsbüro und dem Hafen. Geld sollte also eigentlich kein Problem sein, zumindest nicht in diesem Monat.

    Die Rituale besetzen meinen gesamten Alltag. Ich schaffe es nicht, mich gegen ihre aufdringliche Art zur Wehr zu setzen. Ihre Treue ist auf perverse Weise abstoßend. Sie sind überall dabei, ganz gleich, welche Tageszeit es ist – machen die Quälgeister denn niemals Ferien?

    Schon seit langem lebe ich in einer Art Stellungskrieg. Wird es mir je besser gehen, oder sieht so das Leben aus, das ich leben muss? Wenn ich wüsste, dass es immer so aussehen wird, dann ginge es mir vielleicht besser. Dann würde ich so weiterleben, bis ich eines Tages nicht mehr kann, und dann würde ich einfach einschlafen. So könnte ich das Leben ehrlicher beenden und müsste nicht wie jetzt rumlaufen und mir einbilden, dass eines Tages alles anders sein wird. Aber ich glaube trotzdem hartnäckig an das Unglaubliche. Ich mache weiter die Umschläge mit dem Psychologengeld auf, ich mache Termine mit Psychologen aus, überlege es mir aber anders, wenn ich merke, dass die Praxis im vierten Stock liegt, was bedeutet, dass ich mindestens achtzehn Türschwellen und fünfzehn Türklinken überwinden muss. Also ist es mir egal, und ich weiß ja auch schon, was die Psychologen mir antworten werden. Hier eine Antwort, die ich bereits von fünf verschiedenen Psychologen in fünf verschiedenen Praxen erhalten habe:

    »Lebe das Leben, such dir ein Mädchen, es wird schon vorübergehen. Hab keine Angst vor deiner Phantasie, wir warten einfach mal ab.«

    Alle wollen mir nur das Beste, aber jetzt ist es genug, das merke ich. Ich greife zum Telefon und rufe zu Hause an. Ich erzähle, dass ich mich jetzt so weit gesund fühlen würde, dass ich kein Geld für eine Therapie mehr benötige. Meine Eltern sagen, dass sie mich verstehen, und schicken aber trotzdem weiterhin das Psychologengeld – ein Zeichen dafür, dass sie mehr verstehen als ich.

    Ich weiß nicht, wie ich den Zwangsgedanken und Ritualen begegnen oder sie meistern soll. Es ist, als wäre meine stärkste Waffe die Verteidigung und nicht der Angriff. Früher konnte ich sie fernhalten, indem ich mich dazu nötigte, intensiv zu leben – Ben, der Rundfunk, der Job, die Cafés, die Synthiemusik. Jetzt fehlt das alles.

    Stattdessen tauchen weitere Rituale auf, oder neue Varianten von alten. Ausgedehnte Versionen, verlängerte, doppelte Varianten in kürzeren Zeitabständen. Es wird mir im Großen und Ganzen alles, was ich machen will, unmöglich gemacht. Den Alltag überlebe ich, indem ich mich defensiv verhalte, mit der Verteidigung als bester Waffe. Stillsitzen, wandern, wandern, stillsitzen. Wenn ich zufällig mal ein paar Sekunden zu lange ausruhe, dann kann es passieren, dass die Rituale übernehmen und mich mit stundenlangen Wiederholungen quälen. Ich muss die ganze Zeit auf der Hut sein, mich wachsam verhalten, keinen Fingerbreit abweichen, ständig auf der Hut sein. Meine Verteidigungsmethoden werden ausgedehnt, nehmen neue Formen an. Ich schaffe es, schneller zu sein als die Rituale, indem ich die offenkundigen Fallen vermeide: Türschwellen, Klinken, Menschen, Geräusche, Gerüche, Kleiderwechsel, Waschen.

    Indem ich die Schuhe nicht ausziehe, vermeide ich zwei Stunden des Ritualisierens.

    Also behalte ich die Kleider an, schlafe in ihnen, benutze den Mantel als Decke – und vermeide so sieben Stunden Ritualisieren. Ich verlasse das Zimmer nur einmal am Tag, nämlich wenn ich zum Wandern hinausgehe. Einmal am Tag gehe ich in die Toilette, um den Plastikeimer mit Wasser und Seife zu füllen. Auf dem Weg dorthin muss ich zwei Türschwellen passieren + zwei Türschwellen auf dem Rückweg = drei Stunden Ritualisieren. Aber ich muss das Wasser austauschen.

    Es ist unmöglich, auf die Toilette zu gehen:

    Zwei Türschwellen müssen überquert werden. Tür schließen,

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