Herr Tourette und ich
es, die Zeitungen innerhalb des Zeitrahmens auszuliefern, nur hier und da mit einer halben Stunde Verspätung. Ich schiebe es auf das Wetter, auf die Radaufhängung des Karrens, verschlossene Eingänge und kaputte Briefkästen. Und ich komme erst mal davon. Aber natürlich ist es mir unmöglich, die Arbeit als Zeitungsausträger zu bewältigen.
Normalerweise stehe ich gegen zwei Uhr nachts auf und beginne meine Runde um drei oder halb vier. Jetzt, da die Rituale wieder anfangen, die Gedanken zu besetzen, wage ich nicht, mehr als höchstens eine Stunde zu schlafen. Sonst laufe ich Gefahr, zu spät zu kommen, gefeuert zu werden, das Geld zu verlieren, wieder von vorn anfangen zu müssen. Also verlasse ich mein Zimmer schon gegen zwei Uhr. Dann wandere ich durch die Straßen, versuche, mir die Runde ins Gedächtnis zu rufen, ehe ich zur Haltestelle gehe, wo die Zeitungsbündel angeliefert werden. Ich bin der Einzige dort. Die meisten kennen ihre Runde so gut, dass sie ihre Zeitungen erst gegen fünf Uhr abholen, um dann in knapp einer Stunde die Arbeit durchzuziehen. Meine ist die kürzeste, und dennoch brauche ich am längsten von allen. Diese unendlich verdammten Türschwellen, Bürgersteigkanten, beschissenen bazilligen Türklinken, diese beschissenen Zeitungen rein durch beschissene Briefkastenschlitze, die beschissene Menschenhände mindestens fünfzigmal täglich angefasst haben. Dann muss ich checken, ob ich auch wirklich Herrn P. das Morgonbladet reingelegt habe, und nicht den Aftenposten , und hat Frau A. auch den Aftenposten bekommen und nicht das Morgonbladet , oder war es Frau O., die zwei Morgonbladet kriegt, anstelle eines Aftenposten , und wie war das noch mit Familie K., kriegen die beide Zeitungen oder nur den Aftenposten , denn das Morgonbladet kriegen die doch nicht, oder, oder war es Familie L., die den Aftenposten nicht kriegt und, oder, oder, oder? Sicherheitshalber teile ich an den Stellen, wo ich unsicher bin, sowohl das Morgonbladet als auch den Aftenposten aus, was wiederum dazu führt, dass es am Ende, wenn noch ein Gebäude und zwanzig Abonnenten übrig sind, keine Zeitungen mehr gibt. Dann versuche ich, ein paar hundert Meter zurückzulaufen und die Zeitungen wieder rauszufischen, die ich möglicherweise falsch ausgeteilt habe. Dank meiner langen und schmalen Hände schaffe ich es, fünf Morgonbladet rauszuangeln. Aber ich schneide mir ins Handgelenk, es blutet, die Briefkastenschlitze sind scharf. Ich erkenne, dass dies wohl nicht die richtige Taktik ist, also gehe ich noch einen Kilometer zurück, bis ich in dem Villagarten lande, wo die Zeitungen in Kästen getan werden, was im Vergleich zu den messerscharfen Briefschlitzen das reinste Kinderspiel ist. Ich komme mit einem Ergebnis von minus zehn Zeitungen ins Ziel. Es werden also zehn Abonnenten die Zentrale anrufen und sich beklagen, was ja nicht so schlimm ist, wenn man die Schwierigkeiten bedenkt, die ich hatte. Ich denke nicht viel darüber nach, sondern mehr, dass ich ziemlich stolz und zufrieden bin, weil ich tatsächlich fünf Morgonbladet aus zehn Zentimeter schmalen Briefkastenschlitzen gefischt habe. Das macht mir Hoffnung für den Fall, dass ich mich, wenn die Zeitungsausträgerkarriere einmal ein Ende nimmt, als Einbrecher verdingen muss.
Manche Türschwellen brauchen mehr Zeit als andere. Ich weiß nicht warum. Aber vor allem die Schwellen in Gebäude 3 Hageby 4, einer Vorschule und einer Schwimmhalle, benötigen unendlich viel Zeit. Hingegen ist es viel leichter, geradezu locker, die Türschwelle zur Bäckerei und zum Wohnkomplex 4 zu überqueren. Ich weiß nicht, woher das kommt, und ich schaffe es auch nicht, darüber zu spekulieren, denn ich habe genug damit zu tun, meine Runde in akzeptabler Zeit abzuschließen, was in meiner Welt mindestens eine Stunde nach der sogenannten normalen Zeit bedeutet.
Ich begreife, dass sich die Abonnenten beklagt haben müssen. Aber ich bin unmöglich zu erreichen, bin selten zu Hause und habe kein Telefon, also sind die erwarteten Beschwerden ausgeblieben oder haben mich auf jeden Fall nicht ereilt. Also arbeitete ich weiter, teile Zeitungen aus, mache Spaziergänge, schlafe ein Stündchen hier, ein Stündchen da. Die Müdigkeit schlägt mich in regelmäßigen Abständen knockout. Ich schlafe sogar beim Austeilen der Zeitungen ein und muss mich manchmal an einen Pfeiler oder eine Treppe lehnen, um nicht umzufallen.
Meine Karriere als Zeitungsausträger währt zweiundzwanzig
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