Herr Tourette und ich
wiederholen.
Ich schlafe nicht gut. Vielleicht drei Stunden, vielleicht zwei, in einer guten Nacht sind es vier Stunden. Das Letzte, was ich denke, ehe ich mich hinlege, ist, dass es mir morgen vielleicht besser geht und dass nächste Woche alles wahrscheinlich verschwindet, und in einem Jahr, in einem Jahr gehe ich vielleicht Hand in Hand mit einer Frau und rieche an ihren Himbeerhaaren. In einem Jahr. Vielleicht. Ich schließe die Augen, lege die Hände unter die linke Wange, ziehe den Mantel über mich, lege Beine und Schuhe in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zum Bauch und atme aus. Ich versuche, nicht so viel zu denken. Es ist nicht gut, wenn man zu viel denkt. Ich mag Gedanken überhaupt nicht.
Ich wandere ein paar Kilometer, dann setze ich mich auf eine Bank, auf einen Container oder in der Nähe des Hauptbahnhofs vor ein Lagerhaus. Da sitze ich manchmal mehrere Stunden, hauptsächlich, um den Körper vor der nächsten Wanderstrecke auszuruhen. Ich weiß nicht, was ich denke, weiß nur, dass ich versuche, möglichst nicht zu viele Gedanken auf einmal frei zu lassen. Aber inzwischen ist es nicht mehr so leicht, zwischen den gesunden und den kranken Gedanken zu unterscheiden, was vor nur wenigen Monaten noch ein unnormales Verhalten war, hat sich jetzt zu einer natürlichen Alltagsroutine entwickelt. Etwas, was getan werden muss, was zwingend notwendig ist, und da gibt es keinen Millimeter Raum für Diskussionen. Ich gehe weiter, und der Körper scheint es auszuhalten, seine Kondition ist erstaunlich gut, sonst würde ich diese Marathonwanderungen mehrere Male in der Woche auch gar nicht schaffen. Ich merke, dass ich immer weniger Hunger habe, je mehr ich wandere. Ich esse kaum noch, aber der Körper scheint auch damit kein Problem zu haben. Ich verspüre kein Verlangen mehr nach Essen, ich will nur gehen, weitergehen, nicht denken und essen und andere Handlungen ausführen müssen, die doch nur wieder in neuen Ritualen enden werden.
Für meine Wanderungen brauche ich immer mehr Zeit. Ich verlasse das Zimmer gegen neun Uhr morgens und komme nicht vor zwölf Uhr nachts nach Hause. An manchen Tagen kann ich mich nicht erinnern, wohin ich gegangen bin, an anderen bin ich nur gelaufen und gelaufen, bis ich aus reiner Erschöpfung in eine U-Bahn gesprungen bin, die mich zum Hauptbahnhof gebracht hat, von wo ich dann wieder zu Fuß nach Hause gelaufen bin. Um die Blicke der Nachbarn zu vermeiden, komme ich so spät wie möglich nach Hause, wenn alle schon schlafen gegangen sind. Meist gehe ich noch eine Testrunde, um zu sehen, ob alle Lichter aus sind. Die meisten gehen so gegen elf Uhr ins Bett, aber um auf der sicheren Seite zu sein, komme ich nie vor zwölf Uhr nach Hause. Wenn ich mit dem Ritualisieren um zwölf Uhr nachts beginne, dann schlafe ich an einem guten Abend so gegen vier Uhr morgens ein. Um acht Uhr wache ich auf. Dann entscheide ich, ob ich zu Hause auf dem Stuhl bleibe oder bis Mitternacht weiter auf neue Wanderungen gehe. Nach vierzehn Stunden des Wanderns schmerzen die Beine und die aufgescheuerten Stellen sind tiefer und röter geworden. Am Tag danach bleibe ich zu Hause, um die Beine auszuruhen, die Wunden zu versorgen und hier und da ein paar Stunden zu schlafen. Aber zu Hause verspüre ich mehr Stress als draußen auf den Wanderungen. Und der Toilettenbesuch fühlt sich in der freien Natur angenehmer an als mit einer Plastiktüte vom Supermarkt.
1987 auf ein A4-Blatt geschrieben:
»Eine Boeing 747 ist im Begriff, in wenigen Sekunden das Gate zu verlassen. Die Piloten bitten um die Starterlaubnis vom Tower, der verantwortliche Mechaniker kontrolliert zum letzten Mal die linke Turbine, eine Rolls-Royce-Engine 4. Sie hat dieselbe Betriebstemperatur wie die rechte Engine 4. Er geht zum Rollfeld-Taxi, das den Jumbojet vom Gate wegschiebt. Er hält den Daumen hoch, die Piloten halten die Daumen hoch, der Tower sagt ›ready‹ in die Kopfhörer, und der Jumbojet rollt langsam rückwärts. Doch plötzlich bleibt das Zugfahrzeug stehen. Es fährt wieder zurück, niemand versteht es, nicht einmal die Piloten. Der Jumbojet wird zurück zum Gate gezogen, als hätte er es sich anders überlegt, als hätte er das Gefühl, zum Teufel, ich schaffe es nicht, noch einmal zu diesem verdammten Erdteil zu fliegen, ich will ausruhen, am Gate ausruhen, lass die Mechaniker und die Piloten und die Stewardessen und die Putztruppe ruhig über mich fluchen, das ist so viel besser als immer zu
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