Herr Tourette und ich
fliegen.«
Das kann doch jedem Tier mal passieren
Ich gehe zu Hause gegen neun Uhr los, streune ziellos eine halbe, vielleicht eine ganze Stunde in meiner eigenen Gegend herum. Dann fällt mir ein, dass ich ins Zimmer zurück muss, meinen Walkman holen, meinen treuen Freund und besten Wanderkameraden. In der Zeit, in der ich wandere, Musik zu hören ist wie Medizin, zumindest auf den ersten Kilometern. Aber ich habe nun also meinen Walkman vergessen und muss noch mal nach Hause. Als ich es mit nur vier Versuchen ins Haus schaffe, sehe ich die alte Dame auf den Knien liegen, den oberen Teil ihres kleinen Körpers in meinem Zimmer. Es stinkt, ziemlich stark, alter Urin. Die Dame dreht sich um, sieht mich an und sagt etwas bedauernd:
»Ich hätte nicht gedacht, dass das passieren kann. Das ist noch nie passiert, sie hat sich immer gut benommen und ist in die Kiste gegangen, wenn sie musste.«
Sie versetzt der Katze einen Schlag in die Seite: »Raus mit dir, pfui, schäm dich.«
Vor ihr liegt eine Einkaufstüte. Eine leere Einkaufstüte. Ich habe vergessen, die Tüte mit meinem zwei Tage alten Urin auszuleeren, ehe ich heute Morgen ging, und ich habe sogar vergessen, die Tür zuzuschließen und das Fenster zuzumachen. Die Katze hat sich ins Zimmer geschlichen, ist zufällig mit der einen Pfote in die Pinkeltüte getreten, aus der sich der Urin entleert hat und in die britisch anmutende Auslegeware gelaufen ist, die jetzt das ganze Haus verpestet. Die alte Dame ist sicher, dass es sich um Katzenpisse handelt.
»Man riecht es ja sogar oben bei mir. Ja, wahrscheinlich läuft es durch auf den Boden.«
Sie lässt sich auf alle viere nieder, wischt weiter auf und verspricht, dass alles weg sein wird, bis ich nach Hause komme, denn ich werde doch heute Nacht wahrscheinlich auch arbeiten, oder?«
»Doch«, antworte ich. Und entschuldige mich, dass ich in der letzten Zeit vergessen habe, die Zettel aufzuhängen, ich hatte so viel bei der Arbeit zu tun.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt die alte Dame, als sie den Feudel auswringt, so dass mein Urin in ihrem Wischeimer landet.
»Das macht doch nichts«, sage ich.
»Wenn wir auch das Tierische noch kontrollieren könnten, dann würden wir ziemlich viel Charme einbüßen«, erwidert sie lächelnd.
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, antworte ich.
»Wenn nur alle das so nehmen würden wie Sie«, seufzt sie.
»Das kann doch jedem Tier mal passieren«, sage ich.
Ich weiß nicht, was im Kopf passiert
Ich weiß nicht, was im Kopf passiert. Alles nimmt nur zu. Habe mehr und mehr den Eindruck, die Kontrolle zu verlieren, kein Gefühl und keine Nähe mehr. Vielleicht ist es die Stadt oder die Luft oder die Geräusche, vielleicht auch das Wetter. Das Eingesperrtsein ist so offensichtlich, ein Zuckerwattenebel breitet sich aus, dringt durch Nase und Mund ein und klebt sich im Gehirn wie ein verdammtes Fliegenpapier fest. Ich halte mich jetzt die meiste Zeit im Haus auf, kann mich kaum mehr rühren, ohne ritualisieren zu müssen. Den Zeigefinger zu bewegen erfordert ein Ritual, das Essen runterzuschlucken, die Augen zu schließen, aufzustehen, mich zu setzen, die Kochplatte ein- und auszuschalten, den Fernseher, das Radio, die Deckenlampe. Ich verlasse das Zimmer oft mehrere Tage nicht, was bedeutet, dass ich jetzt für jeden Toilettenbesuch Tüten benutze. Im Zimmer hängen bis zu fünf Tüten mit unterschiedlichem Inhalt. Aber man muss nur das Fenster aufmachen und Luft reinlassen, dann geht es schon wieder. Außerdem finde ich, dass der Geruch von Rippchen über den Gestank aus den Tüten siegt. Der Gestank stört mich nicht länger, vor einem Monat noch war er viel aufdringlicher. Also bleibe ich sitzen. Die beste Waffe ist nicht mehr die Defensive, sondern totales Abwarten. Aber ich weiß gar nicht, worauf ich warte. Vielleicht auf eine magische Gedankenfigur, die jeden Moment in mein Blut springen kann und mit dem Strom zum Gehirn fließen, ihr Lager in der Ecke aufschlagen wird, an der Kreuzung zwischen Guten Gedanken und Bösen Gedanken, die bösen abfangen und dann Löcher in sie schneiden, das Blut in einen Eimer fließen zu lassen, der dann in das beste Abflusssystem der Welt geleert werden wird. Weg. Für immer. Ich weiß nicht, vielleicht warte ich darauf, dass jemand ins Zimmer kommt und mich wegträgt, mich auf einer Bahre festzurrt und in ein Krankenhaus einschließt. Vielleicht wäre das ja besser als in einem nach Urin stinkenden Zimmer in einem
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