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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Tür abschließen. Klobrille mit dem Ellenbogen oder der Plastiktüte hochklappen, womöglich hatte der Vormieter eine unbekannte Krankheit. Ich ziehe den Reißverschluss runter, vier x vier Mal. Den Pieseler aus dem Hosenladen holen = Türschwelle. Pieseler über die Kloschüssel = Türschwelle. Pinkeln = eins, zwei, drei, vier, fünf, den Urin zurückhalten, eins, zwei, drei, vier, weiter pinkeln.

    Wenn ich kacken muss, kommt eine zusätzliche Stunde Ritual dazu.

    Das Papier zum Hintern führen, vier x fünf Mal abwischen + mögliche Wiederholung. Mindestens ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Blatt Toilettenpapier verwenden, was in Wirklichkeit ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier x neun Blatt Toilettenpapier bedeutet, was in einer anderen Wirklichkeit verstopfte Abflussrohre verursachen kann.

    Dann dauert es Stunden, sich nach dem Toilettenbesuch die Hände zu waschen:

    Ich muss jeden Finger, jeden Nagel, jedes Fingergelenk ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Mal waschen. Mindestens. Zehn Finger, zehn Nägel, zehn Fingergelenke. Ich höre auf, mich zu waschen. Wasche stattdessen nur einen Finger ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier x neun Mal, und das neun Mal am Tag.

    Ich verlege mich immer mehr darauf, nur die Zeigefinger zu waschen, denn das ist der Körperteil, den ich am meisten benutze. Ich schere mich nicht darum, die anderen Finger auch zu waschen, die sind den Zeigefingern doch nur im Weg. Die Zeigefinger benutze ich, wenn ich esse, auf die Toilette gehe, Türen öffne, Briefe aufschlitze, Schuhe binde, das Radio ein- und ausschalte. Der Toilettenbesuch nimmt so viel Zeit in Anspruch, dass ich mich auch hier für die Verteidigung als beste Waffe entscheide. Ich gehe nicht mehr auf die Toilette und erspare mir so drei Stunden Rituale. Ich wasche die Zeigefinger im Kaffeewasser oder im Plastikeimer. Ich pinkele und kacke in Plastiktüten, die ich an die Türklinke hänge – und erspare mir so vier Stunden Ritualisieren. Die Plastiktüten werfe ich später weg, wenn ich rausgehe und loswandere.

    In den ersten Tagen ist es ein wenig anstrengend mit dem ständigen Geruch nach Kacke und dem durchdringenden Uringestank in dem kleinen Zimmer. Aber ich gewöhne mich daran. Der Uringestank hört nach ein paar Stunden Lüften auf. Ich lasse die Tüten zwei, manchmal drei Tage lang hängen und nehme sie mit raus, um sie wegzuwerfen, wenn mir nach Wandern ist. Aber ich reduziere auch die Wanderungen. Es dauert zu lange, aus der Wohnung zu kommen, und viel zu lange, wieder hineinzukommen. Ich bin auch zu müde, um zu wandern, und so halte ich mich immer mehr im Haus auf. Inzwischen können fünf Tage vergehen, ohne dass ich das Haus verlasse, fünf Tage, bis ich die Plastiktüten wegwerfen kann. In der Wohnung versuche ich Bücher, Zeitungen und Musikzeitschriften zu lesen, aber ich schaffe es nicht, mich auf das zu konzentrieren, was ich lese – sobald die Buchstaben x, z, y oder e auftauchen, muss ich zurück an den Anfang und neu mit dem Text beginnen. Also sitze ich die meiste Zeit bei zugezogenen Gardinen auf einem Stuhl neben der Kochplatte und höre Radio. Ich sitze strategisch richtig auf dem Stuhl, und zwar so, dass alle meine Körperteile sich innerhalb unterschiedlicher Striche im Zimmer befinden. Von dem Stuhl aus kann ich das erreichen, was ich brauche, ohne aufstehen zu müssen, ohne Linien oder Türschwellen überschreiten zu müssen, ohne Rituale ausüben zu müssen. Vom Stuhl aus kann ich das Radio, das Sofa, die Tür, die Bücher und die Plastiktüten an der Türklinke erreichen. Zumindest einige Stunden lang sitze ich in derselben Stellung. Gegen halb acht versuche ich, mich ein wenig hinzulegen und ein paar Stunden mit den Kleidern am Leib zu schlafen, ehe ich wieder aufstehen und mich vergewissern muss, dass ich wirklich die Tür geschlossen habe, die Plastiktüten zugeknotet, die Kochplatten ausgeschaltet, die Lampe auf der Toilette ausgemacht, beide Zeigefinger gewaschen, vier x neun x vier Mal. Ich lege mich vorsichtig mit meiner linken Körperhälfte auf die linke Seite des Sofas – links = Norden = Kälte = keine Bakterien = Gesundheit.

    Ich versuche zu schlafen, aber das dauert seine Zeit, denn ich muss die Augenlider ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Mal schließen. Neun Mal für jedes Auge. Und dann wage ich nicht, sie wieder zu öffnen, denn dann muss ich das Augenritual weitere vier Mal

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