Herrentier
als Zoodirektorin?«
Behnke, der etwas im Vernehmungsprotokoll notierte, lehnte sich zu seinem Kollegen und flüsterte hinter vorgehaltener Hand in dessen Ohr. Schwarz machte eine zustimmende Geste, bevor er nach kurzem Zögern einen A4-Umschlag öffnete und einige Ausdrucke einer Internetseite herauszog. Evelyn erkannte gleich die Website von Ostsee-Today . Ein kurzer Schrei entfuhr ihr. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund und rannte aus der Küche.
Fleisch
Gregor erklomm die Treppen im Gebäude der RAZ . »Mount Everest«, murmelte er auf dem ersten Treppenabsatz. »K 2«, auf dem zweiten. Oben angekommen, war seine Stirn nass, er atmete schwer. »Nanga Parbat«, sagte er halblaut. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, sofort wieder in der Redaktion zu erscheinen. Er hätte sich eine Auszeit nehmen sollen, wie Madeleine ihm empfohlen hatte. Eigentlich hatte sie es angeordnet. Aber Gregor hatte ein schlechtes Gewissen und wollte unbedingt zur Nachmittagskonferenz.
Die Sitzung hatte schon begonnen, als er eintrat. Auch das noch. Alle wandten sich ihm zu und verstummten. Gregor blieb eine Weile in der Tür stehen, bis sie sich sattgesehen hatten. Ihm fiel ein, dass er auf der Stirn, über der linken Braue, ein großes helles Pflaster kleben hatte. Von wegen Nanga Parbat – sie sahen ihn an, als käme er direkt aus dem Krieg. Er zog die Tür hinter sich zu und setzte sich auf einen der freien Plätze. Noch immer schwiegen alle. Die Blicke folgten ihm.
»Gut, dass du wieder da bist«, sagte Jürgen mit einer Stimme, die Gregor nicht recht deuten konnte.
»Ich freu mich auch euch zu sehen«, sagte er. »Und … es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«, fragte Jürgen.
»Dass ich die Story vermasselt hab.«
Jürgen stand auf, umrundete den Tisch. Bei Gregor angekommen, reichte er ihm die Hand, zog ihn zu sich hoch und umarmte ihn. Gregor stand ungelenk da, die Nase an Jürgens Hals gepresst. Der hatte es gut gemeint mit dem Rasierwasser am Morgen. Nino Cerruti , dachte Gregor. Das Raue in der Stimme seines Chefs – es war wohl Rührung gewesen.
Jürgen setzte sich wieder. »Ihr sollt Geschichten schreiben, ihr sollt nicht selbst zu Geschichten werden. – Wichtig ist, dass du unversehrt geblieben bist. Jedenfalls fast.« Jürgen blickte in die Runde. »Und das gilt für alle. Unser Körper, unsere Gesundheit sind unser höchstes Gut. Wer sich in Gefahr begibt, der wird darin umkommen.«
»Und wer sich nicht in Gefahr begibt, wird auch darin umkommen«, meldete sich eine Stimme.
Jürgen blickte finster in die Richtung, aus der der Einwurf gekommen war. Der Volontär wurde rot und versuchte in seinem Pullover zu verschwinden. »Das hat Ernst Bloch geschrieben …«, versuchte er noch die Situation zu retten.
Mit den Worten »Ich habe auch schon mal ein Zitatenlexikon in der Hand gehabt«, brachte Jürgen ihn zum Schweigen. Dann fragte er die Themen für die Ausgabe des kommenden Tages ab. Die Kollegen breiteten die Hochs und vielen Tiefs des Lokaljournalismus aus.
Kerstin berichtete über die Scheckübergabe in einer Bank. Die Belegschaft hatte während einer Betriebsfeier für gute Zwecke gesammelt und wollte die Summe jetzt spenden: 88 Euro, von denen der Filialleiter allein 50 Euro gegeben hatte.
Alex hatte einen Termin beim führenden Hersteller von Maulschellen in der Region Rostock vereinbart. Das Familienunternehmen feierte seinen 63. Geburtstag. Warum eine große Feier bei einem so unrunden Geburtstag? Der Geschäftsführer, Sohn des Firmengründers, war krank und die Angst dementsprechend groß, dass er den 65. nicht mehr erleben würde.
Cornelia hatte über einen Bekannten einen Arbeitslosen kennengelernt, der als Hobbybiologe aus dem Plattenbau mit einem Schülermikroskop Krebs erregende Bakterien an den Beinen von Mücken ausgemacht haben wollte. Das war eine Geschichte, an der ihrer Meinung nach »was dran« sein könnte.
Jürgen streckte die Arme nach oben aus und rief betont pathetisch: »Leute, ich brauche Substanz, wo ist die Substanz?«
Alle standen auf. Der Ruf nach Substanz war traditioneller Abschluss jeder Redaktionssitzung. Jürgen krempelte seine Hemdsärmel herunter und bat Gregor, noch einen Moment zu bleiben.
Als die anderen gegangen waren, schloss er die Tür, drehte sich um und fuhr Gregor unvermittelt an:
»Wenn du das nächste Mal im Krankenhaus landest, dann bitte, nachdem du die Story bei uns abgeliefert hast.«
Gregor blickte ihn fassungslos
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