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Herrentier

Herrentier

Titel: Herrentier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Joseph
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dir die Wahrheit sage: Ich habe keine Familie. Keine Frau, keine Kinder. Ich habe nur dich, und mit‹dir will ich zusammen sein’. Die Ausreden, die er sich für seine angebliche Frau zurechtgelegt hatte, alles gelogen. Die Fotos, die er mir gezeigt hatte, der Vater mit seiner glücklichen Familie. Das waren die Kinder einer Schwester.«
    Katharina wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel: »Der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte.«
    »Es hätte eine werden können. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Ich kam mir betrogen vor. All diese Vorsicht, dieses ganze Spiel. Er hatte mich an der Nase herumgeführt.«
    »Was hast du getan?«
    »Ich bin aufgesprungen, bin aus dem Lokal gelaufen auf die Straße, habe mir ein Taxi gerufen und bin nach Hause gefahren.«
    »Eine weitere Übersprungshandlung.«
    Evelyn reagierte nicht darauf. »Am nächsten Tag war Roberto tot. Und ich werde wohl nie erfahren, was wirklich passiert ist.«
    »Suizid?«
    »Nein, er wurde umgebracht, sagt die Polizei. Er muss aus der Gaststätte zurück in den Zoo gegangen sein. Er wurde im Verwaltungsgebäude gefunden. Das heißt, er wollte wahrscheinlich zu mir. Mit mir reden.«
    »Warum sollte er dich im Zoo gesucht haben?«
    »Mein Auto stand noch auf dem Parkplatz. Ich wollte es später holen, nach dem Essen mit Roberto. Er dachte sicherlich, dass ich dort wäre. Und dann muss er diesem Verrückten in die Arme gelaufen sein.« Evelyn spürte, wie ihr die Tränen aus den geschlossenen Lidern liefen. Was sie noch sagen wollte, ging in Schluchzen unter.
    »Gut so«, sagte Katharina sanft. »Lass ihn raus, den Heuler, wie du es nennst.«
    »Es ist meine Schuld, dass das passiert ist. Wenn ich anders reagiert hätte, nur ein wenig anders. Er wäre noch am Leben.« Evelyn trocknete sich die Tränen.
    »Du hast Schuldgefühle.«
    »Richtig, aus diesem Grund bin ich hier. Diese Schuldgefühle machen mich fertig, ich stehe neben mir und bin ständig angespannt. Ich habe mich noch nie so erbärmlich gefühlt. Die Frage ist, ob du mir helfen kannst.«
    »Ich spreche von beistehen.«
    »Ich will wissen, ob ich lernen muss, damit zu leben. Oder ob es eine Möglichkeit gibt, den Schalter umzulegen. Damit fertig zu werden, damit abzuschließen.«
    »Das hängt davon ab, ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen dem, was geschehen ist, und der Art und Weise, wie du gehandelt hast. Eine tiefe Wahrheit, die sich dir vielleicht noch nicht erschlossen hat.«
    Evelyn hatte das Taschentuch zu einem winzigen Knäuel zurechtgeknetet. Kausale Zusammenhänge, dachte sie. Die gab es zuhauf. Aber alle Linien, die sie zu ziehen vermochte, endeten unweigerlich bei Henning Schwarck, der alle Grenzen überschritten und Regeln gebrochen hatte, beruflich und persönlich. Oder endeten die Linien am Ende doch bei ihr selbst? Hatte der Sicherheitschef Dinge über Evelyn erfahren, die er nicht hätte wissen dürfen, und am Ende war doch sie selbst der Dreh- und Angelpunkt der Tragödie? Nein, diesen Gedanken ließ sie nicht zu.
    Evelyn richtete sich abrupt auf. »Ich denke, ich muss wieder los«, sagte sie und setzte resolut ihre Füße auf den Boden.
    »Unsere Zeit ist ohnehin um.«
    Sie verließen den Besprechungsraum. Draußen herrschte noch immer gähnende Leere.
    »Sieht so aus, als ob sich der nächste Partner verspätet«, sagte Evelyn. Sie hatte sich wieder gefangen.
    »Dann habe ich ja ein wenig Zeit, über unser Gespräch nachzudenken«, entgegnete Katharina.
    Evelyn reichte ihr die Hand. »Ein Heuler ist übrigens eine junge Robbe.«
    Katharina lachte. »Ich mag deinen Humor, Evelyn. In ein paar Monaten weiß niemand im Club mehr, dass du erst kürzlich aufgenommen wurdest, da bist du voll integriert. Das verspreche ich dir.« Sie schüttelte Evelyns Hand. »Bis zum nächsten Mal.«
    »Das überlege ich mir noch«, sagte Evelyn und wusste nicht, ob sie den Club oder einen Besuch in Katharinas Sprechstunde meinte.
    Der Weg von der Praxis in der St.-Georg-Straße nach Hause war nicht lang. Die Herbstluft tat ihr gut. Sie holte ihr Mobiltelefon hervor und wählte.
    »Wie war’s bei der Seelenklempnerin?«, flötete Jeanette. Diese unbefangene Art war das, was Evelyn jetzt brauchte. Ihre Stimmung hellte sich auf.
    »Wenn die Klempnerin wäre, die würde den Wasserhahn nicht reparieren, sondern ihn überreden, von allein mit dem unvernünftigen Tropfen aufzuhören.«
    »Mehr kannst du von einer Germanistin vielleicht auch nicht erwarten«,

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