Herrentier
Madeleine. »Was hab ich dir immer gesagt: Irgendwann wirst du diesen ganzen Papierkram brauchen.«
»Dein ganzer Papierkram ist da immerhin auch mit dabei, vergiss das nicht«, sagte Gregor. Er fühlte einen unangenehmen Druck in der Magengegend, und bei dem Gedanken an den Berg aus Rechnungen, Bewirtungsbelegen und Kontoauszügen neben seinem Schreibtisch wurde ihm übel.
»Was gedenkt der Herr zu tun?«
Gregor sprang auf. »Auf jeden Fall werde ich mir keine halbe pürierte Kuh kaufen, sobald es ein Problem gibt.«
»Es ging mir nicht gut«, sagte Madeleine scharf. »Ich fühlte mich schwach und Dingen ausgesetzt, die ich nicht beherrschen konnte. Und vielleicht liegt das ja auch an unserer Ernährung, dass wir zu wenig Abwehrkräfte haben, dass wir Situationen nicht gewachsen sind und ausbrennen.«
»Den Zusammenhang zwischen Vegetarismus und Burnout musst du mir noch mal in Ruhe erklären.«
»Mein Gott Gregor!«, schrie Madeleine ihn an. »Dich scheint diese ganze Situation nicht besonders zu berühren. Aber für mich ist das ein absoluter Albtraum. Ich habe Angst, verstehst du das nicht? Da draußen laufen Leute herum, die uns beobachten, die anscheinend alles über uns wissen. Und dann kommen wir nach Hause und die Kinder sind weg! Ich stehe noch völlig unter Schock, kapierst du das nicht?«
»Die Kinder waren ins Schlafzimmer umgezogen. Das haben sie schon tausendmal gemacht.«
»Aber nicht, nachdem wir auf offener Straße bedroht wurden! Es ist der falsche Moment für deinen verdammten Sarkasmus und deine feine Ironie. Heb dir das für deine Wurstblätter auf. Hast du dir auch nur einmal überlegt, was alles hätte passieren können?« Madeleine sank in sich zusammen und schluchzte. »Ich weiß nicht, ob ich das noch lange aushalte.« Sie beschrieb mit dem Arm einen Bogen, der das Wohnzimmer samt Gregor umschloss. »Das alles.«
Es klingelte. Madeleine fuhr zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Gregor stöhnte und legte den Kopf in den Nacken. Es war der denkbar ungünstigste Moment für Besuch. Im Flur zögerte er kurz, dann hielt er sich den hellgrauen Plastikhörer der Wechselsprechanlage ans Ohr und drückte auf den Empfangsknopf. Draußen stand Bernd. Gregor überlegte, ob er seinen Ex-Kollegen hereinlassen sollte. Er lauschte einen Moment dem dünnen Rauschen von der Straße in seinem Hörer, drückte dann aber doch auf den Summer. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft war Bernd eine Weile die Zielscheibe der regionalen Medien gewesen. Die Kollegen hatten schnell den Zusammenhang zwischen Bernds Abhöraktionen und seiner Vergangenheit hergestellt und nicht mit entsprechenden journalistischen Kostbarkeiten gegeizt. Bernd war wahlweise »Genosse Horch und Guck« oder »Das Monster mit der Wanze«, es wurde gemutmaßt, ob er nur ein verlängerter Arm eines geheimen Netzwerks sei, das die vergangenen fünfundzwanzig Jahre unbeschadet im Untergrund überlebt hatte. Daraufhin war Bernd komplett von der Bildfläche verschwunden.
Gregor hörte jemanden die Treppe heraufpoltern. Er öffnete die Tür. Tatsächlich Bernd. In Anzug, Schlips und Kragen.
»Du traust dich was«, sagte Gregor und machte keine Anstalten, Bernd hereinzubitten.
»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.« Bernd knetete verlegen den oberen Rand seiner Aktentasche. »Und ich wollte mich entschuldigen. Und ich wollte mich bedanken.«
»Das sind ja gleich drei Sachen auf einmal«, sagte Gregor reserviert, öffnete aber die Tür und ließ Bernd herein. Madeleine kam mit rotem Gesicht aus dem Wohnzimmer und erstarrte, als sie den Gast sah.
»Dass du dich hier noch blicken lässt!«, zischte sie und verschwand in der Küche.
»Ist gerade nicht die beste Stimmung hier«, sagte Gregor und führte Bernd ins Wohnzimmer. Der blieb dort unschlüssig in der Mitte des Raumes stehen. Gregor ließ sich wieder auf das Sofa fallen.
»Ich fand das gut von dir, dass du nicht auf mir rumgehackt hast damals«, sagte Bernd. »Und dafür wollte ich mich bedanken. Du warst der Einzige, der sachlich über die ganze Angelegenheit mit mir geschrieben hat. Der Einzige, der mich nicht öffentlich demontiert hat.« Bernd seufzte. »Ich hätte nie gedacht, dass die Kollegen so hämisch sein können, wenn man mal Mist baut. Weißt du, man trifft sich bei der Pressekonferenz und alle sind per Du und ganz kumpelig. Aber wenn’s drauf ankommt, merkst du, auf wen du wirklich rechnen kannst. Da bleibt plötzlich kaum jemand
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