Herrentier
Evelyn.
»Reduktion ist die Voraussetzung für Konzentration.« Katharina signalisierte Evelyn, sich auf die Liege zu setzen.
»Ich sage übrigens nicht Patient. Das klingt so sehr nach Krankheit.« Katharina setzte sich an den Schreibtisch. »Ich sage Partner. Worum es mir geht, ist ein Gespräch von Gleich zu Gleich.«
Evelyn seufzte. Auf diese Art der Behandlung hätte sie vielleicht doch verzichten sollen. »Solange nicht ich dich analysieren muss«, sagte sie resigniert.
»Ich analysiere nicht, ich fühle mich ein. Weißt du, Psychologie ist für mich weder eine Wissenschaft noch ein Handwerk. Sie ist vielmehr eine grundsätzliche Lebenshaltung.«
Evelyn drehte sich zur Seite, hob ihre Beine auf die Couch und legte sich hin.
»Wie geht es dir nach all dem?«, fragte Katharina.
Evelyn tastete nach der Narbe. Ein feiner Graben, ein millimeterhoher Absatz zog sich quer über ihren Schädel. Die eine Seite des Grabens war taub geblieben. Das Gefühl irritierte Evelyn. Sie spürte den Druck ihrer Finger, aber es war, als würde sie auf ihrem eigenen Kopf etwas Fremdes berühren, ein Stück Kopfhaut, das nicht zu ihr gehörte. Schwarte, dachte sie. Es heißt Schwarte.
»Roberto«, sagte sie. »Ich muss über Roberto sprechen.«
»Erzähle mir etwas über Roberto.« Katharina schlug die Beine übereinander.
»Roberto war ein Kollege«, begann Evelyn zögernd. »Mein Freund. Mein Geliebter, um genau zu sein. Ich habe ihn umgebracht.«
»Eine Übersprungshandlung. Du machst dir Vorwürfe, und obwohl du nichts dafür kannst, nimmst du die Schuld auf dich, fühlst dich verantwortlich und beziehst das ganze Geschehen nur auf dich selber. Ein ganz normales Phänomen.«
Evelyn richtete sich auf. »Ist das die Diagnose? Dann bin ich jetzt geheilt – oder muss ich Tabletten nehmen?«
Katharina wurde rot. »Entschuldige, aber ich habe das Gefühl, als könnte ich in dir lesen wie in einem offenen Buch. Bitte bleib liegen.«
Evelyn lehnte sich wieder zurück.
»Wir hatten uns gestritten.«
Eigentlich war es kein Streit, dachte Evelyn. Eher ein Missverständnis. Sie hatte Roberto in der großen Voliere besucht. Er war unglaublich anhänglich gewesen, hatte sie in einen kleinen Geräteraum gezogen, sie geküsst, bedrängt. »Evelyn, ich will dich ganz und gar. Für immer«, hatte er gesagt. Sie hatte sich aus Robertos Umarmung befreit, woraufhin er vor ihr auf die Knie gefallen war. Da hatte sie gemerkt, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wollte es ihm so schnell wie möglich sagen, nicht in ihrer Wohnung, nicht im Bett, nicht nach einem weiteren dieser Liebesakte, die ihr immer mehr vorkamen wie akrobatische Übungen. Nach dem Dienst wollten sie sich treffen, in der Trotzenburg , dieser Wirtschaft mit selbst gebrautem Bier direkt vor den Toren des Zoos. Dort Kollegen zu begegnen, war eher unwahrscheinlich.
»Wir haben uns in einer Gaststätte getroffen, um uns auszusprechen. Ich war traurig, aber ich wusste, es musste sein. Ich musste Roberto sagen, dass wir beide keine Zukunft mehr hatten. Ich wollte dieses Versteckspiel nicht mehr, dieses Verbergen vor den Kollegen, und am Ende auch vor mir selbst. Die scheinheiligen Telefonate nach Leipzig mit Holger. Ich wollte es beenden.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er ist mir zuvorgekommen. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er meine Hand genommen. Er hatte eine Ara-Feder mitgebracht. Grün und gold. Er hatte meine Handfläche nach oben gedreht und mit der Feder über mei›e Lebenslinie gestrichen. ‚Wenn dies ein Verlobungsring wäre, ich würde ihn dir j‹tzt auf den Finger stecken’, sagte er. Und dan› sah er mir in die Augen. ‚Evelyn, lass uns zusammen sein. Für immer. Ich liebe dich. Ich will mich nicht mehr verstecken. Ich will dein Mann sein, dein Freund, dein Vogelwart, was weiß ich. Aber i‹h will bei dir sein. Immer’.«
»Du warst schockiert?«
»Nein, eher resigniert. Roberto hatte nicht kapiert, worauf es mir in unserer Beziehung ankam. Jetzt war eingetreten, wovor ich mich, uns beide immer schützen wollte. Er wollte mehr. Ich versuchte ihm das auszureden. Und dann kam erst der eigentliche Schock.« Evelyn bedeckte mit den Händen ihre Augen.
»Ich fragte ihn, ob er sich für mich tatsächlich von seiner Familie trennen wolle. Von seiner Frau, seinen zwei Kindern. Ob er das tatsächlich übers Herz bringen würde, und das auch noch für eine deutlich ältere Frau. Da lächelte e› so eigenartig und sagte: ‚Es ist Zeit, dass ich
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