Herrentier
Halbtrockene hatte sich als genießbar herausgestellt. Evelyn hatte dankbar die ganze Flasche geleert, durch das Gespräch mit Holger trotz des nicht gerade befriedigenden Verlaufs in eine etwas bessere Stimmung versetzt. Ein paar Mal waren ihr noch die Tränen gekommen. Wegen Roberto. Wegen der verfahrenen Situation. Die zusammengeknüllten Küchenrollenabschnitte lagen verteilt auf der Couch und auf dem Boden davor, als hätte eine verrückte Kindergartengruppe das Zimmer mit selbst gebastelten Schneeflocken dekoriert. Irgendwann war sie in einen unruhigen Schlaf verfallen. Sie träumte davon am Strand zu sein, mit einem Mann, der über und über mit Vogelfedern bedeckt war. Sie konnte nicht erkennen, wer es war und wollte das Gefieder zur Seite streichen. Aber es war festgewachsen. Also begann sie, die Federn einzeln herauszureißen. Je mehr sie von der nackten Haut freilegte, desto sicherer war sie, Roberto vor sich zu haben. Aber als sie an der großen Schwanzfeder riss, drehte sich das Wesen plötzlich um. Es hatte Holgers Gesicht und fuhr sie an: »Hör auf damit. Ohne die Schwanzfeder komme ich nie wieder nach Leipzig zurück.« Evelyn wollte vor Enttäuschung und Ärger aufschreien, aber im Aufwachen hörte sie sich nur entrüstet ausatmen.
Und dann hatte sie gemerkt, dass jemand im Raum war. Nicht weit von ihr entfernt. Drüben an der Anrichte. Eben hatte er noch in den Papieren in der Schublade gewühlt, jetzt bewegte er sich nicht mehr. Je länger Evelyn in die Dunkelheit starrte, desto besser konnte sie ihn erkennen. Die Person war dunkel gekleidet und hatte so etwas wie eine Mütze über Kopf und Gesicht gezogen. Evelyn schnürte es die Kehle zusammen. Der Rotwein ließ ihren Blick verschwimmen – oder waren es Tränen. Sie richtete sich auf, setzte die Beine fest auf den Boden, als hoffte sie, durch forsches Auftreten den Geist zu vertreiben. Vergeblich.
»Ganz ruhig«, flüsterte eine raue, heisere Stimme. Die Gestalt trat auf sie zu. Sie zog die Beine wieder auf die Couch, versuchte sich mit der Decke zu schützen.
»Was wollen Sie?«, krächzte sie.
»Die Kohle. Ich will wissen, wo du das Geld versteckt hast.« Er schrie fast und flüsterte doch. Seine pfeifende Stimme gellte in Evelyns Ohren. »Die zweihundertzwanzigtausend. In der Plastiktüte.«
»Die sind nicht hier«, sagte Evelyn und überlegte fieberhaft, wo sie die Tüte das letzte Mal gesehen hatte. »Im Zoo. Die Tüte ist im Zoo.«
»Verkauf mich nicht für blöd. Ihr hattet das Geld im Auto und seid danach nicht mehr reingekommen in den Zoo. Das Hauptgebäude ist gesperrt. Es hat gebrannt. Vergessen?«
»Das Geld ist im Safe.« Evelyn setzte wieder beide Beine auf den Boden und richtete sich auf. »Verlassen Sie meine Wohnung.«
»Bleib, wo du bist.« Die Gestalt kam noch einen Schritt auf Evelyn zu. Sie hielt etwas in der Hand. Eine Krücke. Oder ein Brecheisen. Ein Schlagstock, es war ein Schlagstock. Und mit der anderen Hand zog er jetzt etwas Schlaffes, Langes aus seiner Jackentasche.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte er und kam noch einen Schritt näher. Er war riesig. Evelyn blieb regungslos sitzen. Die Wut, die sie eben noch gespürt hatte, wich lähmender Angst. Sie haben den Falschen, dachte sie. Diese Idioten haben den Falschen festgenommen.
»Tun Sie mir nichts«, flüsterte sie. »Das Geld ist nicht hier.«
Jetzt stand er direkt vor ihr. Hoch aufgerichtet. Evelyn hörte ihn atmen, fauchend, fast wie ein Tier. Oder wie ein Mann voller Angst. Evelyn verharrte auf der Sofakante. Absprungbereit. Ihre Angst gegen seine.
»Ruhig, ganz ruhig«, sagte die Stimme und langsam hob er das Lange, Schlaffe aus seiner Tasche hoch. Ein Seil. Ein Seil mit einer Schlinge. Sie sah, wie sein Arm mit der Schlinge näher kam. Evelyn kniff die Augen zusammen, Schweiß rann ihr über die Stirn. Die Schlinge sollte ihr über den Kopf gelegt werden. Das war sicher. Sie spürte, dass ihr Gegenüber heftig atmete, durch den halb offenen Mund. Sie roch seinen Schweiß. Thymian, dachte Evelyn. Ausgerechnet Thymian.
Je näher die Schlinge kam, desto konzentrierter und ruhiger wurde sie. Sie musste nur den richtigen Augenblick abpassen. Sie musste sich auf ihren Instinkt, auf den siebten Sinn verlassen. Den Moment seiner Schwäche erkennen und losschlagen. Das Seil berührte ihren Kopf, die Schlinge war nicht weit genug geöffnet, er musste mit der Hand einmal umgreifen. Jetzt, schrie es in Evelyn. Mit aller Kraft schoss sie auf
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