Herrentier
faszinierend an ihm gefunden hatte. Wäre ein äußerlich durchschnittlicher Typ wie Gregor jemals an eine Frau wie Madeleine herangekommen? Wohl kaum, wenn der Journalistenberuf bis in die 1990er-Jahre hinein nicht noch seinen alten Glanz versprüht hätte. Mit dem Durchmarsch des Internets fiel das Niveau vieler Zeitungen ins Bodenlose, wenn sie denn überlebten. Auch das Ansehen des Pressevertreters sank. Das geschriebene Zeitungswort, mit dem über Jahrzehnte eine handverlesene Schar von Intellektuellen den Menschen allmorgendlich die Welt erklärte, war nur noch ein Brotkrumen, den man wegschnippte oder aß. So oder so, es war bedeutungslos. Gregor hatte Madeleines Herz gewonnen, weil er sie im poetischen Sinne entführt hatte. Er brachte ihr die von ihm verehrten Bücher und Platten näher. Fremder Menschen Worte und Melodien zwar, doch hatte er sie entdeckt. Es waren seine Gefühle. Gregor hatte sie eingeweiht, hatte ihr Welten gezeigt, die Madeleine ohne ihn niemals kennengelernt hätte und die einen empfindsamen jungen Menschen wie sie zutiefst zu berühren vermochten. Fast jeder weiß, wie es riecht, wie es sich anfühlt, wenn man ein Buch das erste Mal durchblättert, aber nicht für jeden bedeutet es dasselbe. Termine? Wohnungskredite? Abendbrot- und Schlafenszeiten der Kinder? Zwänge existierten damals nicht, nur Träume, und für die genügten Rotwein und Baguette.
Das war gerade einmal etwas über zehn Jahre her. Im Grunde waren sie dieselben Menschen, sie liebten immer noch Bücher und Platten, doch genau wie diese digital, geruchlos und störungsfrei wurden, hatte sich vieles in ihrem Leben verändert. Alles beschleunigte sich, hatte weniger Gefühl, wurde ebenfalls irgendwie digital.
Als Gregor am Zoogelände vom Fahrrad abstieg, klingelte sein Telefon. »Bist du auch hier?« Jeanettes Stimme drang aus einer Geräuschkulisse.
»Falls hier gerade da ist, wo sich scheinbar die halbe Mecklenburger Weltpresse versammelt hat, dann ja. Ich schließe etwa 100 Meter neben dem Zooeingang mein Fahrrad an. Wo stehst du?« Gregor schrie fast, so als stünde er in der Menschenmenge, nicht sie.
»Ich kann dich ganz schlecht verstehen. Sind gerade am Verwaltungsgebäude. Hinter mir ist ein Ü-Wagen von RTL und neben mir einer vom NDR .«
Ein Polizeiwagen schoss gerade vom Gelände, während Gregor sich durch den Pulk von Pressevertretern und Schaulustigen drängte. Er winkte alle paar Meter Kollegen zu, mühte sich vorwärtszukommen, ohne sich in Gespräche verwickeln zu lassen. Zu seiner Überraschung hielt ihm Jeanette zum Gruß ihre Wange hin.
»Die Polizei hat gerade Bernd Fühmann verhaftet.«
»Bernd?« Gregor war fassungslos. »Wieso denn das?«
»Ich weiß es auch nicht genau. Es gibt nur ein paar Gerüchte. Evelyn; Frau Hammer versucht da drüben gerade mit irgendjemandem von der Polizei zu sprechen.«
Gregor schaute über die zahllosen Köpfe und Kameras, die in den Abendstunden von Baulampen angestrahlt wurden, als wären sie selbst der Tatort und nicht das Zoogebäude gegenüber. Über dessen schwarzen Fenstern zeichneten sich lange nach oben breiter werdende rußige Schatten ab. Immer wieder schlugen Blitzlichter gegen die verunstaltete Fassade und die umstehenden Bäume des nachtschwarzen Barnstorfer Waldes. Ein bizarres Bild. Gregor dachte an seine Kinder und Madeleine.
»Kaum zu glauben, wir hätten sterben können«, sagte er, als würde ihm erst jetzt, beim Anblick dieses Theaters, bewusst, welcher Gefahr sie ausgesetzt gewesen waren.
»Weiß man schon, wer der Tote ist?«
»Nein, noch nicht. Grieshaber sprach von einem männlichen Toten, wahrscheinlich mittleren Alters. Wir sind auch gerade erst ein paar Minuten hier.« Jeanettes Stimme klang brüchig. »Ich möchte mir gar nicht ausmalen, um welchen Kollegen es sich handeln könnte.«
»Wer ist denn normalerweise so spät noch im Büro?«
»Eigentlich niemand, der Sicherheitsdienst vielleicht. Im Zoo gibt es aber immer Ausnahmesituationen, Tiere werden krank, müssen umquartiert oder besonders gepflegt werden.«
In diesem Moment bahnten sich Evelyn Hammer und Henning Schwarck einen Weg durch die Journalisten, die sofort ihre Mikrofone und Notizblöcke nach ihnen ausrichteten. Die beiden wirkten, als ob sie durch nasskaltes Novemberwetter liefen. Beide schwiegen, wehrten alle Anfragen ab. Mit einem Mal ging ein Raunen durch die Reihen. Wie ein Fischschwarm, der blitzschnell seine Richtung ändert, fuhren alle Augen
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