Herrgottswinkel
wollte.
Der alte Gundler war seine Wintergrippe nie ganz losgeworden, aber jetzt plagte ihn ein noch schlimmeres Leiden. Er hatte sich eine schwere Lungenentzündung zugezogen und Anna hatte es übernommen, ihn zu pflegen. Sie kochte ihm unterschiedliche Kräutertees, machte Umschläge und Aufgüsse, ja, selbst einer nicht ganz unangenehmen Behandlung im Heuschober musste er sich unterziehen, als Anna ihm eine Art ›Schwitzhütte‹ unter dem Heu zurechtmachte, in der er dick angezogen heißes, mit Heu, Fladen von Ochsendung und Kräuterschnaps versetztes Wasser einatmen musste, bis ihm der Schweiß aus allen Poren tropfte.
»Vom Geruch her müsste Euch Euer Vieh nun schon von Weitem erkennen«, meinte Anna lachend, als sie ihn danach gründlich von oben bis unten mit trockenem Heu abrieb, bis seine alte, faltige Haut rosa wie bei einem Baby wurde. Zum ersten Mal hatte sie die Gelegenheit, sich ihren Schwieger vater genauer anzusehen. Himmel, wie ausgemergelt und eingeschrumpelt er aussah! Bucklig, mit einem kaputten Bein und anfällig für jede Art von Krankheiten. Doch seine Gebrechen waren nicht nur körperlicher Natur, schlimmer fast stand es um seine seelische Gesundheit. Denn zeit seines Lebens hatte er bei seiner Frau nichts zu melden gehabt, sie behandelte ihn eher wie einen Knecht und nicht wie einen Ehemann. Kein Wunder allerdings, hatte er doch als Knecht auf dem Hof gearbeitet und dann eingeheiratet. Bekommen war ihm das nicht, jedem Tier auf dem Hof hätte man eine bessere Behandlung gewünscht, als er von seiner Frau bekam. Früher hatte er, wenn die Not am ärgsten war, Zuflucht beim Alkohol gesucht, war tagelang verschwunden, aber dann doch reumütig zurückgekehrt. Wo hätte er auch hin sollen? Er hatte niemanden sonst, keine Familie, nicht einmal entfernte Verwandte – und die wenigen Freunde aus seiner Jugend waren ihm wegen der bösartigen Frau abhandengekommen. Konnte es sein, dass er, nachdem die Flucht in den Alkohol zu teuer geworden war, nun Zuflucht bei allen möglichen Krankheiten suchte? Doch das war wie die Frage nach der Henne und dem Ei, entschied Anna, es gab keine Antwort darauf, ob er krank wurde, weil er immer unglücklich war, oder ob er unglücklich wurde, weil er immer krank war.
Diesmal immerhin konnte Anna ihm helfen – und keine drei Tage nach seiner ›Ochsenkur‹ war der alte Gundler morgens und abends wieder bei der Arbeit im Stall anzutreffen. Die alte Gundlerin war beeindruckt, was Anna über Heilpflanzen alles wusste, doch sie zeigte ihre Bewunderung nicht, von Dankbarkeit für die Genesung ihres Mannes ganz zu schweigen. Vielmehr versteckte sie ihre Gefühle weiterhin hinter einer Maske der Verachtung, die sie aufsetzte, sobald Anna in der Nähe war.
»Wenn man hart und schwer wie eine Bäuerin arbeitet, kann man sich mit einem solchen Aberglauben nicht mehr befassen«, gab sie bei einem Abendessen zu verstehen. »Sennerin auf einer Alpe willst du gewesen sein? Käse und Butter willst du gemacht haben? Da kann ich nur lachen, wenn da noch Zeit war, sich mit Pflanzen und Kräutern zu beschäftigen – außer du hast den Tag verhext, dass er für dich doppelt so lang gedauert hat!«
Einmal, es war bereits kurz vor ihrer Niederkunft, fiel Anna die schwere blecherne Spülschüssel aus der Hand, und der ganze Küchenboden schwamm im Spülwasser. Sie kniete mit einem Lumpen auf den Dielen und war damit beschäftigt, ihr ›Unglück‹ aufzuwischen, als Walli, vom Gepolter in der Küche angelockt, hereingestürmt kam und sie anschrie: »Du bist nichts, du kannst nichts und du hast nichts! Das Einzige, was du in deinem Leben geschafft hast, war, mir meinen Sohn wegzunehmen, du Hexe! Verhext hast du ihn, damit er bei dir bleibt – und doch, wäre dein Balg erst mal auf der Welt gewesen, dann wäre er schon zu mir zurückgekommen, das habe ich gespürt, so was merkt eine Mutter.«
Anna hockte auf allen vieren in der Nässe, Tränen schossen ihr in die Augen, sodass sie nichts mehr sehen konnte, doch sie ließ sich nichts anmerken. Am Küchenstuhl zog sie sich mit beiden Händen hoch, dann stand sie wieder, wenn auch schwankend, auf den Beinen und ging wortlos und ohne einen Blick auf ihre Schwiegermutter aus dem Zimmer.
»Und wer räumt den Dreck jetzt weg?«, keifte die Alte hinter ihr her, doch Anna beachtete die Tiraden gar nicht weiter, sondern stieg selbstbewusst die knarrende, ausgetretene Stiege zu ihrer Kammer hinauf. Das brachte die Schwiegermutter derart in
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