Herrgottswinkel
war ihr nach dieser Unterhaltung zumute.
Kurz vor dem Viehscheid war der Vater dann hochgekommen, um ihr zu helfen, die Alpe winterfest zu machen, und es bot sich endlich die Gelegenheit, über Annas Entscheidung zu reden. Der Vater sprach ihr gut zu und versicherte: »Die Liebe wird kommen, Anna. Sie wächst mit der Zeit. Ihr werdet euch zusammenraufen, glaube mir. Und wenn ihr erst gemeinsame Kinder habt, wird eure Verbindung noch fester werden. Ich spreche da aus Erfahrung.«
Anna schaute ihren Vater forschend an, dann fragte sie ohne Umschweife: »Habt Ihr Mutter nicht immer geliebt?«
»Die Schwester deiner Mutter war es, die ich geliebt habe. Sie war Magd auf dem Hof meiner Eltern und hat sie im Alter gepflegt. Ich war unsterblich in sie verliebt. Und so ist es passiert, dass sie schwanger wurde. Wir mussten heiraten, aber sie starb im Kindbett bei deiner Geburt. Jetzt stand ich da, alleine mit einem Kind und bettlägerigen Eltern, dem Hof und der vielen Arbeit. Auf der Beerdigung habe ich dann ihre Schwester getroffen, die Mutter, die du kennst. Sie hatte ein gutes Herz, kam auf den Hof und ging mir überall zur Hand. Nachdem wir uns ein Jahr lang gegenseitig geprüft hatten und es als richtig empfanden, haben wir dann geheiratet. Wir haben uns zusammengetan, wie man so schön sagt, sie hat mir fünf Söhne geschenkt und sie war dir immer eine gute Mutter. Mir war sie jeden Tag, seit wir uns kennen, eine gute Frau.«
Anna saß wortlos und wie gelähmt neben ihrem Vater.
»Sie hieß übrigens Anna wie du, ich habe sie nie vergessen, doch obwohl ich sie noch immer in meinem Herzen trage, ist das Leben weitergegangen. Und auch bei dir und deiner Liebe zu Daniel wird es so sein. Deswegen ist deine Entscheidung richtig, schon allein um Johannas willen.« Er nahm seine Tochter in die Arme und hielt sie ganz fest, als sie schluchzend ihre Stirn an seine Schulter drückte.
Am nächsten Morgen ging es hinab ins Tal. In der Nacht waren noch Annas Brüder und Anton gekommen, um mit anzupacken. Annas Vater lenkte das alte Pferdefuhrwerk, das mit Käse voll beladen war, den steilen Bergweg hinunter. Anna und ihre kleine Tochter saßen neben ihm auf dem Kutschbock. Die jungen Männer kümmerten sich ums Vieh. Als Kühe und Kälber schließlich gesund im Tal angekommen waren, wurde erst einmal der Viehscheid vollzogen und jedem Bauern wurden aus der großen Herde, die den Sommer in den Bergen verbracht hatte, seine Tiere übergeben. Danach saß die ganze Familie Bader mit ihrem Gast Anton Berkmann am großen Tisch von Annas Eltern und es gab g’schupfte Nudeln mit Sauerkraut. Anna warf immer wieder einen Blick auf ihre Mutter, denn so würde sie sie auch weiterhin bei sich nennen, und dachte über sie nach. Nein, nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass das nicht ihre Mutter sein könnte, mehr Liebe, Fürsorge und Mitgefühl hätte sie von keiner anderen Frau bekommen.
Verdammt, ausgerechnet jetzt, sie wollte doch gar nicht weinen! Doch da stupste sie ihr Vater, der ihren Gemütszustand wohl mitbekommen hatte, sanft in die Seite: »Sei nicht traurig, Anna, dein Elternhaus ist ja nicht aus der Welt und du kannst uns immer besuchen, wenn dir danach ist.« Er hatte den Anlass für ihre Tränen offensichtlich falsch gedeutet, aber sie war ihm umso dankbarer für seine Worte, als sie sich nun leichteren Herzens von ihren Eltern und ihren Brüdern verabschieden konnte. Dann machte sie sich mit ihrer Tochter auf dem Arm auf den Weg in ihr neues Zuhause. Anton, der schweigend neben ihr ging, hatte einen kleinen Leiterwagen im Schlepptau, auf dem Annas und Johannas Habseligkeiten verstaut waren.
Unterwegs begegneten sie einigen Dorfbewohnern, die zwar freundlich grüßten, doch nachdem die drei vorbeigezogen waren, hinter vorgehaltener Hand tuschelten und kicherten. Anna machte das nichts aus, aber sie bemerkte wohl, dass es Anton unangenehm war.
»Soll ich wieder umkehren?«, fragte sie ihn herausfordernd.
»Lass nur, mir ist egal, was andere sagen«, entgegnete er schnell. Aber Anna wusste, dass das gelogen war.
Am Hof angekommen, ging Anton geschwind die Steintreppe zur Tür hoch und schloss auf. Ein Blick über den Zaun genügte, um Anna zu zeigen, dass der kleine Garten vor dem Haus nicht im besten Zustand war. Doch im Haus wartete die weit größere Überraschung auf sie. Sie glaubte zunächst, dass ihr die Einbildung einen Streich spielte, aber da standen wirklich zwei Schafe und eine Ziege im Hausflur. Überall
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