Herrgottswinkel
und eine Haarpracht, die zerzausten Vogelnestern glich. Nur selten hatte jemand ein Wort aus ihrem Mund vernommen, aber arbeiten konnten sie, dass es eine Freude war, sie im Holz dabei zu beobachten.
Anton Berkmann, der jüngste, hatte mit seinen älteren Geschwistern keine Ähnlichkeit: groß gewachsen, eher hager und von flinker Auffassungsgabe wie er war. Anton war trotz des Vorfalls mit der Geißel hartnäckig geblieben und hatte Anna mehrmals im Sommer auf der Alpe besucht. Dabei hatte er sich nicht nur als nützlich, sondern auch als sehr umgänglich erwiesen. Vergangenen Sommer hatte er ihr, als gerade die Alpenrosen blühten, sogar einen schönen Strauß und der kleinen Johanna geschnitztes Holzspielzeug vorbeigebracht, das seine Brüder während der langen Winterabende selbst gefertigt hatten. Er hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er Anna noch immer sehr verehrte, und hatte auch ganz offen mit ihr darüber gesprochen, dass in seinem Männerhaushalt alles drunter und drüber ginge und die liebevolle und ordnende Hand einer Frau dringend benötigt würde.
»Und irgendeine will ich auch nicht nehmen«, eröffnete er ihr an einem Sonntagvormittag, als Anna gerade damit beschäftigt war, Käse zu machen. Anton saß an ihrer Seite auf dem Bänkchen neben dem Kupferkessel und hatte Johanna auf seinen Knien. Anna rührte fleißig die erhitzte Milch und hatte von der Wärme des Feuers und durch das beständige Rühren schon ein ganz rotes Gesicht bekommen. Das Kopftuch hing ihr weit ins Gesicht, während sie einen Blick über den Kesselrand warf.
»Ich habe mir auch schon Gedanken gemacht, wie es mit mir und Johanna nach dem Sommer weitergehen soll«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen. Und als sie vom Kessel aufsah und sich umdrehte, war er bereits aufgesprungen, hatte Johanna vor sich in die Luft gehalten und mit ihr einen Freudentanz begonnen. »Nicht so schnell, du musst mir Zeit lassen, Anton, bitte versteh das. Es ist noch nicht lange her, dass ich meinen Mann beerdigt habe, und ich habe ihn sehr geliebt. Auf der anderen Seite kann ich nicht weiter meinen Eltern auf der Tasche liegen, Jakob wird Ende September heiraten, und dann wird es eng auf dem Hof. Ich brauche also demnächst für Johanna und mich eine Bleibe und Arbeit.«
»Für Johanna brauchst du vor allen Dingen einen Vater«, erwiderte Anton drängend und legte eine Hand auf Annas Schulter.
Erschrocken zuckte sie unter der Berührung zusammen. Doch er schien das vor lauter Freude gar nicht zu bemerken. »Sag mir, wann ich das Aufgebot bestellen soll.«
»Aufgebot?« Anna schüttelte den Kopf. »Hör zu. Ich werde nach dem Almabtrieb mit Johanna bei dir einziehen und dir und deinen Brüdern den Haushalt führen. Aber eine Hochzeit? Damit musst du schon warten, bis ich die Trauerzeit für beendet halte und wieder Platz in meinem Herzen ist für einen neuen Mann. Es hat nichts mit dir zu tun, Anton, glaube mir das, aber noch ist mir der Gedanke ans Heiraten so fremd wie die Rückseite vom Mond.«
Inzwischen war Anna dabei, den Käse in die Form zu füllen und ihn dann einzupressen, sodass die Molke auf der Seite des Tisches herunterlief, wo sie von einer kleinen Kanne aufgefangen wurde. Schließlich bückte sie sich, griff nach der nun vollen Kanne und überreichte sie Anton. »Trink«, sagte sie mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme. »Trink auf unser gemeinsames Leben.«
Als Anton sich am späten Nachmittag von ihr verabschiedete, um den Heimweg anzutreten, war er glücklich über das, was er erreicht hatte. Die Frau, die er schon so viele Jahre begehrte und verehrte, wollte bei ihm einziehen. Auch wenn sie nur das Zuhause und noch nicht das Bett mit ihm teilen wollte, so war er überzeugt, dass es bloß eine Frage der Zeit war, bis er sie ganz besitzen würde. Dann würde er sie heiraten und mit ihr einen Stammhalter zeugen, denn seine Brüder würden das wohl nicht mehr schaffen. Mit solchen Gedanken stieg er den Weg nach Bolsterlang hinunter, überglücklich, stolz, selbstzufrieden.
Anna hingegen war oben auf der Alpe allein mit ihrem Kind und machte sich schwere Vorwürfe, ob sie nicht zu voreilig gehandelt hatte. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Schwiegermutter noch im Nachhinein recht bekam, indem sie sich nun dem Erstbesten an den Hals warf. Und wie würde ihr Vater, auf den sie immer zählen konnte, wohl auf die Neuigkeit reagieren? Anna sehnte sich dringend nach jemandem, den sie hätte um Rat fragen können, so beklemmend
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