Herrgottswinkel
der Sennküche, und selbst wenn man sich hinten im Raum auf das Bänkchen vorm Milchkessel setzte, erreichten einen noch die Sonnenstrahlen und wärmten einen in der morgendlichen Kühle.
Schläfrig drückte sich Johanna näher an ihre Mutter, die in geübten Bewegungen die Milch rührte. Jetzt wartete sie nur darauf, dass Anna anfing, ihr eine Geschichte von früher zu erzählen, dann würde sie wie immer stundenlang einfach dasitzen, zuhören und den sanften Klang von Annas Stimme in sich wirken lassen.
ZWEITES KAPITEL
Es war ein langer Tag geworden. Nach dem morgendlichen Gespräch mit der Mutter hatte sie sich den Nachmittag über um das Braunvieh gekümmert und konnte es nun, nach einem ausgiebigen Abendessen – es hatte Rühreier mit Speck, dazu Milch mit Honig und zum Abschluss Brot und Käse gegeben –, kaum erwarten, todmüde ins Bett zu fallen. Seit sie zehn war, schlief sie nicht mehr bei ihrer Mutter, sondern war in die ›Rumpelkammer‹ neben der Wohnstube umgezogen.
An einer Seite der Kammer hingen auf einer langen Stange Kuhglocken, gegenüber lagerten in einem wackeligen Holz regal eine Bastschale voll Eier, ein Säckchen Salz und ein Korb mit Kartoffeln, daneben lehnte ein Sack Mehl. Ihre Mutter hatte sich dauerhaft für ein Leben hier oben eingerichtet – kein Wunder, schließlich bewirtschaftete sie seit ihrem neunzehnten Lebensjahr jeden Sommer die Alpe. Jeden Morgen stand sie um vier Uhr auf, um die Kühe zu melken, die sich nach der Nacht im Freien bereits aus eigenen Stücken vor dem Stall eingefunden hatten. Wenn die Tiere sich vor der Hütte versammelten, war es mit der Ruhe vorbei. Zuerst einmal war da das Gebimmel und Geläute, das einen Höllenlärm verursachte, dazu kam noch das immer ungeduldiger werdende Muhen der Kühe, deren Euter bis zum Platzen gefüllt waren.
Auch Johanna wurde von den Kühen aus dem Bett vertrieben, obwohl sie gerne noch ein Viertelstündchen unter dem blau karierten Federbett verbracht hätte. Schnell zog sie sich an und schlüpfte vor dem Haus in ihre geschnitzten Holzschuhe. Dann trug sie Holz in die Sennstube und spleißte feine Späne davon ab, um die Feuerstelle für den großen Kupferkessel vorzubereiten. Mit einem kurzen Blick auf die vor dem Stall stehenden Kühe stellte sie fest, dass sie heute nicht auf den Bergwiesen nach fehlenden Tieren Ausschau halten musste – es waren bereits alle beisammen.
Es würde ein schöner, aber nicht zu heißer Tag werden, so konnte das Vieh nach dem Melken zurück auf die Weide und musste nicht bis zur Dämmerung in den Stall. Johanna beobachtete ihre Mutter, die auf dem einbeinigen Melkschemel hockte, beide Arme unter dem Bauch einer Kuh verschwinden ließ und Strahl um Strahl der weißen Flüssigkeit in den Blecheimer spritzte. Mit einem verschmitzten Grinsen wandte sie sich plötzlich zu Johanna hin, richtete eine Zitze auf sie und bevor sich’s ihre Tochter versehen hatte, landete ein Strahl in weitem Bogen direkt in ihrem Gesicht. Die Milch lief ihr über Stirn und Wangen, ein Teil davon traf aber genau in ihren Mund und so kuhwarm schmeckte sie einfach wun dervoll.
»Reicht dir das als Frühstück?« Anna lachte über ihre Zielgenauigkeit. »Und waschen brauchst du dich jetzt auch nicht mehr, Milch ist viel besser als Brunnenwasser.«
Johanna musste nun auch lachen und machte schnell ein paar Schritte außer ›Schussweite‹ ihrer Mutter – und außer Reichweite des Kuhschwanzes, vor dem man ebenfalls auf der Hut sein musste, denn auch Kühe liebten solche unverhofften Scherze. Allerdings war ein Schlag mit einem Kuhschwanz wesentlich unangenehmer als ein Spritzer Milch im Gesicht. Bei ihrem Satz nach hinten verlor sie einen ihrer Holzschuhe und versank mit dem nackten Fuß in einem riesigen Kuhfladen. Die grüne, spinatähnliche Masse quoll breiig zwischen ihren Zehen hervor. Schnell schleuderte sie auch den anderen Schuh vom Fuß und stellte sich barfüßig mitten in den Kuhmist. Ein herrliches Gefühl! Erwachsene schienen das leider gar nicht zu verstehen, denn erst nachdem sie sich am Brunnen mit der Bürste gründlich ab geschrubbt und mit dem eiskalten Wasser auch Hände und Gesicht gewaschen hatte, durfte sie wieder in die Hütte.
Ihre Mutter war inzwischen mit dem Melken fertig, das Feuer in der Sennstube, wo später Käse gemacht werden sollte, brannte und knisterte schon, aber zuerst wollten sie nun zusammen frühstücken. Nur sie und ihre Mutter am Tisch und weit und breit um sie herum
Weitere Kostenlose Bücher