Herrgottswinkel
nur Kühe, so als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, das war für Johanna stets etwas ganz Besonderes. Doch immer war das Frühstück viel zu schnell vorbei, und das nicht nur, weil die Auswahl äußerst beschränkt war. Unter der Woche gab es stets ein Honig- oder Marmeladenbrot mit frischer Butter, ein Stück Käse, dazu Milch oder einen Milchkaffee. Nur am Sonntag stand ab und an ein frisch gebackener Hefezopf auf dem Tisch. Anschließend gab es für die Gesundheit stets einen Apfel. Das Frühstück war aber vor allem deswegen viel zu schnell vorüber, weil sie an die Arbeit mussten – und vormittags hieß diese ›Käsen‹.
Anna schwenkte den Kessel mit der Milch über das Feuer, stellte die kleine Sitzbank davor, setzte sich auf ein mitgebrachtes Kissen und begann, die Milch gleichmäßig zu erhitzen. Johanna spülte in der Stube noch ab, bevor sie zu ihrer Mutter auf die Bank kam. Die Mutter breitete eine alte Decke über ihre nackten Beine, um sie vor Funkenflug und Hitze zu schützen. Als dann bis auf ihr ununterbrochenes Rühren Stille eingetreten war, hatten sie Zeit für eine Geschichte oder ein Gespräch.
»Ich möchte mit dir heute etwas Wichtiges bereden, Johanna«, hob Anna bedeutungsschwer an. »Jetzt bist du, glaube ich, alt genug, dass ich das zur Sprache bringen kann. Mit jedem Jahr entferne ich mich mehr von der glücklichsten Zeit meines Lebens, als dein Vater noch lebte und wir beide zusammen hier oben waren.«
Johanna hatte keine Ahnung, was Anna damit meinte. »Aber Vater ist doch nicht tot, Mutter, was redet Ihr denn da?«
»Doch, hör zu, ich möchte dir endlich die ganze Wahrheit erzählen«, erwiderte sie mit tieftraurigem Blick. »Drei Monate –« Ihr Atem stockte und es entstand eine kurze Pause.
Johanna merkte, wie schwer ihrer Mutter das Sprechen fiel. »Was ist, was wollt Ihr mir sagen?« Sie konnte ihre Neugier, aber auch ihre Ungeduld kaum bezähmen.
Anna begann von Neuem. »Nein, nur zwei Monate bevor du geboren wurdest, genau am sechsten Januar achtzehnhundertdreiundsiebzig, ist mein Mann – dein richtiger Vater – gestorben!«
Johanna spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte. Ihr wurde am ganzen Körper heiß, dann wieder kalt. »Bitte, Mutter, jetzt müsst Ihr mir die ganze Geschichte erzählen!«
Und so begann die Berganna, Johanna zu erzählen, was sich vor über zwölf Jahren zugetragen hatte.
»Ich war jung und dumm, als ich auf den Gundlerhof auf der Breite kam. Ich war mit dem ältesten Sohn der Familie, deinem Vater Daniel, verheiratet, der später einmal das Anwesen bekommen sollte. Doch Daniel wurde eines Tages beim Wildern erwischt und schwer verletzt. Noch am selben Tag starb er. Du warst zu der Zeit schon fast auf der Welt, obwohl Daniel und ich erst drei Monate verheiratet waren. Wir waren so verliebt ineinander, aber seine Mutter war eine bös artige und verbitterte Frau und sie verstand es, durch ihre krankhafte Seele unsere kurze Zeit des Glücks durch Eifersucht zu trüben. Sie hat mich als Eindringling gesehen, jemand, der ihr den Sohn weggenommen hatte – und den Hof wegnehmen würde. Dafür war ich aus ihrer Sicht nicht gut genug, oder wie sie es ausdrückte: Ich war nichts, ich konnte nichts, ich hatte nichts. Da wirst du es einmal besser haben, Johanna.«
Johanna verstand nicht ganz, was sie meinte. »Aber ich habe doch auch nichts!«
»Doch. Wenn wir einmal tot sind, dein Stiefvater und ich, dann erbst du als einziges Kind das Anwesen in Bolsterlang, die Felder und den Wald. Du wirst einmal etwas mitbringen und nicht wie ich mit leeren Händen in eine Ehe gehen.«
»Sagt so etwas nicht! Ich will Euch nicht verlieren, Mutter.« Ängstlich umklammerte sie Anna.
Doch Anna rührte mit ernstem Blick unentwegt weiter. »Mit dir wird man später nicht umspringen können wie mit dem letzten Dreck. Du wirst es einmal gut haben, das verspreche ich dir!«
»Wie ging es denn weiter? Bitte erzählt mir alles.«
»Als du auf der Welt warst, habe ich den Hof verlassen und bin zu deinen Großeltern nach Bolsterlang. Aber lange konnte ich auch da nicht bleiben, du weißt ja, viel Platz ist dort nicht, und als mein Bruder geheiratet hat und Vater wurde, wurde es immer enger. Schließlich habe ich den Anton geheiratet, der schon um meine Hand angehalten hat, als ich deinen Vater noch gar nicht kannte. Doch ich habe ihn nie geliebt – und die Zuneigung ist auch später nicht gekommen, in Gedanken und mit dem Herzen war ich immer bei
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