Herrgottswinkel
Wohnbereich und stand nun direkt im Herzen der Berghütte: der Sennküche. Von hier aus gelangte man über eine steile Steintreppe in den Käsekeller, wo auf mehreren Holzregalen die Laibe den Sommer über lagerten und reiften. Jeden Tag mussten sie mit einem feuchten Tuch benetzt und von allen Seiten mit Salz eingerieben werden. Außerdem war es wichtig, dass der Käse jeden Tag gewendet wurde.
An dem der Tür gegenüberliegenden hinteren Ende der Sennküche hing der riesige schwarze Kupferkessel an einem Holzgestell, mit dessen Hilfe er über das Feuer geschoben werden konnte. An der linken Wand standen Käsepresse und Butterfass und dazwischen gab es eine Tür, die im Inneren des Hauses in den Stall hinüberführte. Die Käsepresse war besonders wichtig, denn mit ihr wurde die Molke aus dem nassen Käse befördert und dieser gleichzeitig in Form gepresst. Dazu musste die Sennerin einen großen Naturstein auf die Presse wuchten, der an einem Seil über der Käseform hing. Alles in diesem Raum, bis hinauf zum Dachstuhl, war schwarz von Ruß und Rauch, aber es duftete auch herrlich nach verbranntem Holz.
Zwischen Kellertreppe und dem Kamin, wo der Kupferkessel hing, gab es noch eine Tür. Durch sie gelangte man in einen Raum, der Wohn- und Schlafstube zugleich war. Hier stand unter einem Fenster das Bett, in dem Anna schlief, und an dessen Fußende ein Tisch mit einer Eckbank und zwei Stühlen. In der Zimmerecke über der Bank hing ein einfaches schönes Kruzifix, darunter ein kleiner Blumenstrauß, das war der Herrgottswinkel. Links neben der Tür gab es ein gemütliches Sofa und daneben stand ein weißer Herd, auf dem Anna kochte und in dessen Schiffchen stets heißes Wasser zur Verfügung stand, wenn mit dem Ofen die Stube geheizt wurde. In einem Schränkchen neben dem Herd wurden Geschirr und Töpfe aufbewahrt. Von der Stube aus führte eine Tür in einen weiteren Raum, in dem ein Kleiderschrank und ein Bett standen.
Johanna hatte ihren gewohnten Rundgang durch die Zimmer der Alpe beendet, den sie immer machte, um zu sehen, ob sich seit ihrem letzten Aufenthalt etwas verändert hatte. Heute war tatsächlich etwas anders: Auf dem Sofa lag ein Buch mit einer weißen Karte.
»Ich habe ein Geschenk für dich, Johanna«, sagte ihre Mutter lächelnd.
»Von Joseph?«, fragte Johanna erwartungsvoll. »Ist er wieder da?«
»Ja, gestern Abend hat er noch kurz vorbeigeschaut.«
Johanna nahm die Karte, auf der in schwarzer Tinte mit fein säuberlicher Schrift stand: ›Für Johanna, die kleine Bergfee, Tochter der Sennerin Berganna von der Alpe Rangiswang!‹
Johanna musste lachen. »Mutter, die Karte ist ja auch für mich.«
Auf dem blauen Einband war ein Mädchen mit vielen Goldtalern abgebildet und darüber stand ›Märchen der Gebrüder Grimm‹. Johanna blätterte das Buch durch und entdeckte viele bunte Zeichnungen. Die Bilder weckten sofort ihr Interesse, vor allem eines, auf dem eine schöne Frau in einem Schaukelstuhl saß und den vielen Kindern zu ihren Füßen gerade eine Geschichte vorlas. Die Frau im Lehnstuhl musste die Mutter der Kinder sein. Wie gern wäre Johanna in diesem Augenblick eines dieser Kinder gewesen, aber sofort schämte sie sich für den Gedanken. Sie blickte auf die von der vielen Arbeit geröteten Hände ihrer Mutter. Da war wenig Zeit geblieben, richtig lesen und schreiben zu lernen!
»Jetzt habe ich schon vier Bücher von Joseph«, meinte Johanna stolz. »Das mit den wilden Tieren aus dem Urwald ist mein liebstes.«
Am nächsten Morgen wurde Johanna vom Gebimmel der Kuhglocken geweckt. Durch die dünnen Holzwände der Alpe schien es fast so, als würden die Kühe direkt neben ihrem Bett stehen, an ein erneutes Einschlafen war gar nicht zu denken. Also stand Johanna gähnend auf und ging barfuß in die Sennküche, wo sie ihre Mutter vermutete.
Der Raum war von hellem Sonnenlicht durchflutet, das den Kupferkessel, in dem sich bereits die frisch gemolkene Milch befand, golden erstrahlen ließ. Ihre Mutter saß mit roten Wangen vor dem Kessel und kontrollierte unter ständigem Umrühren die Temperatur der Milch, die langsam und gleichmäßig erhitzt werden musste. Heute bereitete sie keinen Allgäuer Bergkäse sondern Weißlacker zu, das hatte sie Johanna am Abend zuvor angekündigt.
Draußen zeigte sich der Sommer von seiner besten Seite, die Eingangstür zur Alpe stand weit offen und ließ im Gegenlicht den Staub in der Sonne tanzen. Licht fiel strahlend durch das einzige Fenster
Weitere Kostenlose Bücher