Herrgottswinkel
verbunden war. Zu Hause führte sie dann wieder dem Vater den Haushalt. Es waren freudlose Tage, die, wäre es nach ihr gegangen, gar nicht schnell genug vergehen konnten. Doch es dauerte und dauerte, bis endlich der ersehnte Samstag da war! Die ganze Woche nörgelte der Vater nur an Johanna herum, nichts konnte sie ihm recht machen. Manchmal schlug er sie sogar oder versetzte ihr einen Tritt in den Hintern, sodass sie in eine Ecke taumelte. Einmal verfluchte Anton das Mädchen, bloß weil es in der Eile das Salz mit dem Zucker verwechselt hatte. Der wahre Grund für seinen Wutausbruch war aber wohl eher der Alkohol, der inzwischen fast das Blut in seinen Adern ersetzte. Anton hielt Johanna vor, dass ihre Mutter – die ›Berghexe‹, wie er sie bösartig nannte – ihm keine Kinder schenkte. Johanna wusste bald nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. Immer stiller und trauriger wurde sie und zog sich in eine Welt zurück, zu der selbst ihre Mutter nur selten Zugang bekam.
Warum nur war ihr Leben so kompliziert geworden, warum bekam sie keine Antworten auf die vielen Fragen, die sie gehabt hätte? Etwa, warum ihr Vater so unnahbar und ohne Gefühl ihr gegenüber war, oder warum die schönen Tage von Samstag auf Sonntag so schnell verflogen, die freudlosen aber dauerten, obwohl doch jeder Tag gleich lang sein müsste? Jetzt, wo sie eine Puppe und einen Puppenwagen hatte und endlich mit ihren Freundinnen hätte spazieren gehen können, jetzt hatte sie dafür auf einmal keine Zeit mehr vor lauter Arbeit.
Nachts, wenn sie sich alleine und fröstelnd in ihr Zimmer schlich und in ihr kaltes Bett huschte, lag neben ihr nur die harte Porzellanpuppe, an die sie sich schmiegte und neben der sie sich in den Schlaf weinte. Ihr Leben unter der Woche, das früher so schön gewesen war, war zum Albtraum ge worden.
Erst wenn die großen Ferien begannen, war die Welt für Johanna wieder in Ordnung: Trotz der Einwände des Vaters verbrachte sie die gesamte Kafanz bei ihrer Mutter auf der Alpe. Antons Bequemlichkeit und seinen Jähzorn, wenn er wie so oft zu viel getrunken hatte, wollte sie nicht länger als nötig über sich ergehen lassen.
Hatte Johanna das Dorf erst einmal hinter sich gelassen, fielen auch bald die Sorgen und Nöte der letzten Monate von ihr ab. Wenn Zeit und Wetter es zuließen, machte Johanna während des Aufstiegs oft eine Pause auf dem Weiherkopf. Von seinem Gipfel aus hatte man eine wunderschöne Aussicht auf die Täler und Berge rundum. Hier oben, außer Atem und mit klopfendem Herzen, hatte sie das Gefühl, dem lieben Gott ganz besonders nah zu sein! Nordöstlich von ihrem Standpunkt erhob sich der Grünten – hoheitsvoll und breit stand er da, der Wächter des Allgäus. Übers Ostrachtal und das Oberjoch hinaus konnte sie den Iseler und einige Tannheimer Berge im Außerfern erblicken, sogar der Schweizer Säntis war von hier oben auszumachen. Unten im Tal waren einzelne Ortschaften zu erkennen, winzige Häuschen und Sträßchen so dünn wie ein Faden ließen die Welt dort un wirklich erscheinen, so als wäre sie ein Riese und würde die Werke von Zwergen betrachten, dachte Johanna. Schräg unter ihr lagen Sonthofen und Burgberg, und wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie im Dunst Kempten und dahinter die weite Ebene des Unterlandes ausmachen. So mussten die Bergdohlen die Welt wahrnehmen, die vom Grat des Weiherkopfes losflogen und sich dann in der warmen Luft nach oben tragen ließen.
Als Johanna, die mittlerweile zwölf Jahre alt war, in diesem Sommer nach dem langen und beschwerlichen Aufstieg mit ihrer Puppe Hildedick im Arm das schmale einstöckige Häuschen der Alpe Rangiswang inmitten sanft hügeliger Bergwiesen erblickte, stürmte sie mit einem Schrei des Entzückens das letzte Stück des Weges hinunter und warf sich direkt in die ausgestreckten Arme ihrer Mutter. Jetzt war Johanna glücklich! Jetzt war sie zu Hause!
Das alte Holzhaus bestand aus einem Wohntrakt und einem Stall, der für längere Kaltwetterperioden oder krank gewordene Tiere vorgesehen war. Direkt vor dem Haus befand sich ein kleiner, gegen Wildverbiss eingezäunter Garten mit Nutzpflanzen, Blumen, Salat und Kräutern. Neben dem Eingangstor stand ein hölzerner Brunnen, an dem man sich wusch, Wasser für die Küche und das Käsen holte und aus dem bisweilen auch eine Kuh trank.
An der Längsseite der Hütte waren zwei Türen, eine diente als Zugang zum Wohnbereich, die andere führte in den Stall. Johanna betrat den
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