Herrgottswinkel
Daniel.« Tränen standen in ihren Augen. »Jetzt sind so viele Jahre vergangen, aber weh tut es immer noch.«
Johanna konnte den Blick nicht mehr von ihrer Mutter abwenden, auch sie hatte eine tiefe Traurigkeit erfasst.
»Du hast viel von deinem Vater, Johanna«, fuhr Anna fort. »Das war mir in meinem großen Schmerz immer ein Trost, aber damals wäre ich am liebsten gestorben. Doch ich musste weiterleben – für dich, du hast mich gebraucht und auch Daniel hätte es so gewollt. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft, und auch wenn ich heute im Dorf schief angesehen werde, weil ich nur ein Kind habe und meinem zweiten Mann keine mehr geboren habe, so ist das doch wohl nicht meine Schuld. Besser ein Kind als keines. Hörst du, was ich sage, Johanna? Kinder sind für uns Frauen das größte Glück, sie wachsen unter unserem Herzen, sie sind ein Teil von uns. Und auch, wenn wir sie unter Schmerzen bekommen, sie bleiben ein Teil von uns. Männer verschwinden wieder aus unserem Leben und in den Augen der meisten sind wir nur für die Arbeit und das Kinderkriegen da. Für Daniel hätte ich das gern getan, aber bei Anton war ich dazu nicht imstande. Da war mir mein Leben wichtiger. Und das habe ich mir hier oben geschaffen, hier habe ich meinen Seelenfrieden, so gut es ging, gefunden.«
»Ist der Anton etwa darum oft so … so gefühllos?« Auch wenn Johanna nicht genau ausdrücken konnte, was sie meinte, so wurden ihr doch manche seiner Verhaltensweisen besser verständlich.
»Das kann schon sein, besonders glücklich ist er mit mir sicher nicht geworden«, gab Anna unumwunden zu. »Aber weißt du, in der Ehe mit deinem Stiefvater fehlte einfach auch bei mir das Gefühl, die Liebe im Herzen. Und nur, wenn die Liebe in beiden ist, ist Gott dabei. Gott ist die Liebe und er gibt sie uns, damit wir sie einem anderen schenken können.«
Johanna dachte noch lange über das nach, was ihre Mutter gesagt hatte, und obwohl sie beide nicht mehr auf dieses Thema zu sprechen kamen, begann Johanna nach dieser Unterhaltung, sich über ihre eigene Zukunft, darüber, was sie vom Leben erwartete, Gedanken zu machen. Sie wollte einmal viele Kinder haben, das war sicher. Und ihr Mann, der sollte etwas darstellen, auf den musste Verlass sein. Und es sollte einer sein, den sie mindestens so lieben konnte wie ihre Mutter den Daniel. Heiraten, nur um versorgt zu sein oder gar wegen einer Schwangerschaft, das kam nicht in Frage. Aber heiraten nur der Liebe wegen, das würde auch nicht genug sein. Es war doch nicht verwerflich, dass sie eigene Vorstellungen hatte, oder? Diese Sache war viel zu wichtig, um nur wegen irgendwelcher Gefühle oder aus Unüberlegtheit einen falschen Weg einzuschlagen. Auf keinen Fall sollten die Eltern oder Geschwister ihres Mannes einmal mit im Haus wohnen. Nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, viele andere Beispiele aus dem Dorf hätte sie nennen können, wo das zu schweren Auseinandersetzungen geführt hatte. Die Altbäuerin, die ihr Leben lang unterdrückt und häufig von ihrem Mann geschlagen wurde, drangsalierte nun die Schwiegertochter, die den Hoferben geheiratet hatte, ließ die Enttäuschungen des eigenen Lebens an der künftigen Bäuerin aus. Auch ein armer Schlucker kam nicht in Frage. So, wie sie allerhand in die Ehe ›einbrachte‹, musste auch ihr Zukünftiger etwas mitbringen, möglichst als Alleinerbe, damit das auch sicher war. Wie hätte sie sonst auf gleicher Augenhöhe mit ihm das Leben teilen können, wenn sie sich nicht von Anfang an gegenseitig respektieren würden?
Und als Johanna im Herbst dieses Jahres auf den Hof nach Bolsterlang zurückkehrte, hatte sie eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie sie ihre Ehe, ihre Familie, ja, ihr Leben zu führen gedachte. Ihrem Stiefvater begegnete sie mit noch größerer Zurückhaltung und eine vorher nicht gekannte Traurigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sicherlich lag das auch daran, dass sie nun die Wahrheit kannte, um die enttäuschten Erwartungen, die betrogenen Hoffnungen wusste, die nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr Stiefvater durchlebt haben musste. Das gab ihm allerdings noch lange nicht das Recht, sie so gefühllos zu behandeln – geschweige denn sie zu demütigen oder gar zu schlagen!
Da sie bald nicht mehr ableugnen konnte, dass die Blicke der jungen Burschen im Dorf ihr galten, bereitete es ihr immer größeres Unbehagen, mit ihrem Stiefvater allein zu sein. Sehnlich erwartete sie die Rückkehr ihrer Mutter von der
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