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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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wünschte sich Johanna ein kleines Geschwisterchen. Einen Spielkameraden, jemand, der den Platz in ihrem Herzen ausfüllen konnte, den die beiden Onkel zurückgelassen hatten. Aber auch jemanden, der sie bewunderte und der zur Verfügung stand, wenn ihr danach war – eben so, wie es die beiden Alten getan hatten. Ob Mädchen oder Junge war ihr egal, Hauptsache jemand würde ihr den Verlust ersetzen.
    Wenn sie am Abend von ihrer Mutter ins Bett gebracht wurde und betete, vergaß sie am Ende ihres Gebetes nie zu sagen: »Lieber Gott im Himmel, mach bitte, dass ich noch ein Geschwisterchen bekomme, wenigstens nur ein einziges. Amen!« Dann küsste die Mutter sie liebevoll auf die kleine Stirn und ging geschwind und mit feuchten Augen aus dem Zimmer. Wie hätte sie ihrer Tochter auch erklären können, dass sie sich ja selbst ein weiteres Kind wünschte, sie aber einfach nicht mehr schwanger wurde.
    Manchmal klang es inzwischen fast vorwurfsvoll, wenn Johanna ihre Mutter fragte: »Warum bekommen alle meine Freundinnen in ihrer Familie kleine Butzele, nur wir nicht?« Doch die Mutter war nicht um eine Antwort verlegen: »Der Storch fliegt immer über unseren Hof hinweg und vergisst einfach, uns auch ein Butzele dazulassen.« So legte Johanna jeden Abend ein paar Körner auf das Fensterbrett, denn eine Freundin aus der Nachbarschaft hatte einmal zu ihr gesagt, dass der Storch die Körner holen und irgendwann ein Baby dafür vorbeibringen würde. Johanna war für diesen Ratschlag sehr dankbar. Ganz beglückt erzählte sie der Mutter davon. Von diesem Moment an waren die Körnchen am nächsten Tag auch immer verschwunden, doch ein Geschwisterchen bekam Johanna trotzdem keines mehr.
    Johannas Freundinnen schoben stolz Kinderwagen mit ihren kleinen Geschwistern durchs Dorf, sie dagegen hatte nur einen kleinen hölzernen Leiterwagen mit einem Teddy bären darin, der in eine Wolldecke eingewickelt war. Manchmal mochte sie gar nicht mehr mit ihren Freundinnen spazieren gehen, weil sie sich schämte, den dunkelbraunen Teddy auszufahren. Johanna war darüber sehr, sehr traurig und oft weinte sie in einer Ecke still vor sich hin. Erst im Sommer, wenn sie alleine bei der Mutter auf der Alpe und nicht mehr die ewige Außenseiterin war, blühte sie wieder auf. Doch die Sommer gingen viel zu schnell vorüber, Jahr für Jahr kam der Herbst ohne Erbarmen und der Abstieg von Rangiswang nahte von Neuem. Das war Johanna schon als Kind schmerzlich bewusst und da sie keinen anderen Ausweg erkennen konnte, hielt sie sich mehr und mehr an die Feen und Waldgeister, die Moorlichter und Windsbräute ihrer Fantasiewelt.
    Am letzten Weihnachten vor ihrem sechsten Geburtstag bekam Johanna eine Puppe vom Christkind und einen kleinen Puppenwagen. Die Puppe hatte blaue Augen und rote Lippen. So etwas hatte Johanna noch nie gesehen. Die langen, schmalen Finger der Hände und auch die kleinen Füße gefielen Johanna sehr. Der Körper war aus Stoff, und die Puppe hatte sogar echtes, langes lockiges Haar. »Du darfst sie niemals fallen lassen, Johanna! Hörst du? Die Arme und Beine und der Kopf sind aus Porzellan und könnten zerbrechen.« Johanna war begeistert. Endlich hatte sie ihr Butzele, das sie versorgen musste, das sie herumtragen und spazieren fahren konnte!
    Nachdem Johanna in die Schule gekommen war, fand die jährliche Sommerfrische auf der Alpe ein plötzliches Ende. Zum ersten Mal war sie für längere Zeit von ihrer Mutter getrennt, die sie über alles auf der Welt liebte. Nur an den Samstagnachmittagen, wenn die Schule vorbei war, bot sich die Möglichkeit, auf die Alpe zu gelangen – und weder ein heftiges Gewitter, ja, nicht einmal ihr Vater Anton, zu dem sie nie ein inniges Verhältnis hatte aufbauen können, konnten sie da von abhalten. Für diese wenigen schönen Stunden bei ihrer Mutter auf Rangiswang hätte sie alles getan, alles gegeben. Für diese eine Nacht in der Woche bei ihrer Mutter im Bett nahm sie jeden Ärger, jede Strafe in Kauf.
    Regelmäßig schimpfte sie der Pfarrer im Unterricht vor der ganzen Klasse aus, weil er sie am Sonntag nie in der Kirche sah, und prophezeite, dass sie in die Hölle kommen werde, da er einem Heidenkind niemals die heilige Kommunion erteilen würde. Johanna saß auf ihrer Bank und weinte. Vor diesem dicken, alten Mann mit der krächzenden Stimme und den starken Brillengläsern hatte sie große Angst.
    Jeden Sonntagabend musste sie von Neuem zurück ins Tal, was jedes Mal mit vielen Tränen

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