Herrgottswinkel
Tochter surren, wenn sie im Bett lag und aus lauter Sorge um ihre beiden Söhne keinen Schlaf fand. Anna war eine fleißige Frau und die Mutter hatte Mitleid mit ihr, dass sie so schwer arbeiten musste. Doch sie fand die richtigen Worte nicht, so wie es ihr überhaupt schwerfiel, ihre Gefühle zu zeigen. Sei es vor ihrem Mann, sei es vor ihren Kindern.
Kurz vor Kriegsende kam ein Brief der Wehrmacht, dass Albert gefallen sei. Kurz nach seinem Geburtstag im Mai, im Alter von siebenundzwanzig Jahren. Von einer Kugel in Montenegro mitten ins Herz getroffen und sofort tot. Später stand in der Zeitung ein Nachruf auf ihn mit der Überschrift ›Heldentod‹. Engelbert las seiner Frau den Artikel beim Frühstück vor. Ihm versagte immer wieder die Stimme. Johanna konnte nur still dasitzen, die Tränen waren längst alle vergossen. Nach dem Frühstück gingen sie, jeder für sich allein, ihren täglichen Arbeiten nach.
Auch Anton, der andere Sohn, kam nicht aus dem Krieg zurück: Zwei Jahre nach Kriegsende bekamen Johanna und Engelbert wieder einen Brief, der nur lapidar einen Tod annoncierte: Am dreizehnten Dezember 1947 war Anton Bietsch an den Folgen einer Lungenentzündung in russischer Kriegsgefangenschaft gestorben.
An einem verregneten Sonntagnachmittag im November 1948 wurden sie von einem Mann aus Wertach aufgesucht. Johanna stopfte gerade Strümpfe, Engelbert lag auf dem Kanapee in der Küche und Rosel, Johannas jüngste Tochter, ratschte mit einer Freundin in der Stube, als es klopfte. Rosel erhob sich und öffnete. Der Mann, der vor der Tür stand, war hager, sah unterernährt aus und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er fragte, ob dies das Elternhaus von Anton Bietsch sei. Rosel bejahte und führte ihn in die Küche. Engelbert war durch die Stimmen aufgewacht, er saß verschlafen auf dem Kanapee. Die Geschichte des Mannes rückte Antons Tod in ein neues Licht.
Er erzählte, dass er mit Anton im selben Gefangenen lager gewesen sei, und welch kameradschaftlichen, für sorg lichen Charakter der junge Mann gehabt habe. Hinter dem Stacheldraht hätten unvorstellbare Zustände geherrscht, selbst die Ratten wären verhungert, wenn sie nur das zu fressen gehabt hätten, was unter den ehemaligen Soldaten an Essen verteilt worden sei. Außerhalb des Lagers habe ein Kartoffelacker gelegen, und weil er es vor Hunger nicht mehr ausgehalten habe, sei Anton einmal in der Nacht unter dem Zaun durchgekrochen, sei weiter bis zum Acker und hätte für sich und einige andere Insassen in der trockenen Erde nach Kartoffeln gegraben. Dabei sei er von einem Wachposten entdeckt und auf der Stelle erschossen worden.
»Mein Gott, dann ist Anton gestorben wie mein Vater«, rief Johanna aus. »Nur, weil er für die anderen sorgen wollte. Wegen ein paar Kartoffeln!«
Weder die offizielle Todesursache Lungenentzündung noch der im Schreiben angegebene Zeitpunkt von Antons Tod stimmte also, das wussten sie jetzt.
»Was für ein Lügenverein«, polterte Engelbert. »Die verreckten Hunde soll der Teufel holen.« Und mit diesen Worten verschwand er im Stall und sprach tagelang kein Wort mehr.
Johanna dachte etwas anders als er, doch diesmal hielt sie ihren Mund. Davon würde ihr Anton auch nicht wieder lebendig werden. Aber die Katastrophen gingen weiter, Johanna schien kein Glück mehr gegönnt zu sein. Zwei Jahre nach Antons Tod starb unerwartet ihre Tochter Sophie. Sie war erst dreiunddreißig und hinterließ einen Mann und drei kleine Kinder.
Karolina, Albert, Anton, Sophie – vier von Johannas Kindern waren nun tot. War das die gepriesene neue Zeit, in der die Kinder vor den Eltern starben? Zwei durch Krankheit, zwei durch den verdammten Krieg. Erst jetzt redete man von den Millionen von Toten, die dem Krieg geschuldet waren. Und immer offener wurde nun auch von den Millionen von Toten gesprochen, die wegen einer anderen Meinung, einer anderen sexuellen Neigung oder einer anderen Religion in den Lagern umgebracht worden waren: Juden, Zigeuner, geistig Behinderte, Homosexuelle, Sozialisten, echte Christen, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter – die Liste nahm kein Ende.
Und an allem sollte plötzlich der Anstreicher allein schuld gewesen sein. Aber der hätte das ohne seine Hintermänner in den Banken, den Wirtschaftsunternehmen, den Zeitungen und den Kirchen doch gar nicht geschafft, dachte Johanna. Doch mit dieser Meinung stand sie auch in der neuen Zeit schon wieder ziemlich alleine da.
SECHSTES KAPITEL
Im
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