Herrgottswinkel
hatten die Tiere im Stall genug zu fressen, bis nach dem langen Winter Ende April endlich der Frühling kam und im Mai die Waldfeste folgten.
Die ältesten Söhne von Engelbert Bietsch ließen kein einziges dieser Feste aus. Sie zogen ihre kurzen schwarzen Wild lederhosen an, die hinten am Gesäß schon ganz speckig waren, schlüpften in ihre weißen Hemden und knöpften da rüber die Hosenträger fest, die mit Blüten vom Edelweiß verziert waren. Auch der Spitzhut mit dem Gamsbart und die grauen Wadenwärmer durften nicht fehlen. Dann wurden die schwarzen Haferlschuhe angezogen und noch ein Kittel über die Schulter geworfen, falls es frisch werden sollte. So verließen die jungen Stenze jedes Wochenende das Haus.
Nicht selten kam es auf diesen Veranstaltungen zu Raufereien, doch am Montagmorgen, wenn seine Söhne mit zer rissenen Hemden am Frühstückstisch saßen, fragte der alte Bietsch nur: »Wer hat gewonnen?« Und wenn seine Söhne als Sieger hervorgegangen waren, grinste er zufrieden und gab jedem einen Fünfer aus seinem Ledergeldbeutel. Seine Tochter Anna musste die Hemden dann wieder zusammenflicken, denn als Werktaghemden zum Arbeiten taugten sie ja noch.
Engelbert Bietsch war nun ›der alte Bietsch‹, ein Kind nach dem anderen ging seinen eigenen Weg und Johanna stellte mit Entsetzen fest, dass immer mehr Silberfäden ihre dunklen Haare durchzogen. Sie fing an, ihre Fingerspitzen mit dem Ruß der Topfunterseiten zu schwärzen und strich dann mit den Fingern durch das ergraute Haar oder zog mit dem Ruß ihre schön geschwungenen Augenbrauen nach. Mochte sie jetzt auch im ›besten Alter‹ sein und trotz ihrer vielen Kinder – eitel war sie geblieben.
Und sie blieb auch eitel, als sie Großmutter wurde, denn ein Kind nach dem anderen war nun so weit, selbst eine Familie zu gründen.
Hermann, den Johannas Mutter besonders in ihr Herz geschlossen hatte, bekam zu seiner Hochzeit das Anwesen der Berganna überschrieben. »Aber wer den Hof erbt, muss mich bis in den Tod versorgen«, hatte die nun schon sehr gebrechliche Frau zu ihrem Enkel gesagt. Wann immer es Johanna möglich war, besuchte sie ihre Mutter und ihren Sohn mit seiner Familie in Bolsterlang. Es war nicht leicht für sie, mit ansehen zu müssen, wie es ihrer Mutter immer schlechter ging. Sie hatte angeboten, die alte Frau mit sich hinunter nach Westerhofen zu nehmen, um sie dort nach ihrem Schlaganfall zu pflegen. Doch die Berganna hatte ihren eigenen Kopf behalten. »Aus diesem Haus bringen mich keine zehn Pferde, solange ich noch lebe«, hatte sie starrsinnig geantwortet. Wenn auch ihr Verstand etwas nachließ, so wusste sie doch immer ganz genau, was sie wollte oder nicht wollte. Und obwohl sie seit zehn Jahren an einem offenen Bein litt, hatte sie im Großen und Ganzen ihren Frieden mit sich und der Welt gemacht und strahlte eine innere Harmonie aus, die nur ein erfülltes Leben zurücklässt.
Einige Tage vor ihrem Tod besuchte Johanna ihre Mutter, die nun ständig das Bett hüten musste, noch ein letztes Mal.
»Ich war in meinem Leben nicht oft in einer Kirche.« Das Sprechen fiel der Berganna bereits sehr schwer. »Ich war ja über zweiundvierzig Sommer im Berg. Wahrscheinlich war ich dort oben auf der Alpe Gott näher als in einer prunkvollen großen Kirche.« Wieder entstand eine Pause. »In meinem Leben habe ich ein einziges Mal ein Kind geboren, dich, Johanna, obwohl ich zweimal verheiratet war. Wirklich geliebt habe ich nur einen meiner Männer. Mit dem dritten Mann in meinem Leben war es ganz anders, ich weiß keine Worte dafür, unsere Beziehung hatte etwas unbeschreiblich Tiefes und Reines.« Anna holte tief Luft. »Es gab einen Moment, da wollte ich mich bei Joseph bedanken, dass er jeden Sommer zu mir kam, und ihn bitten, nie mehr fortzugehen. Diesen Entschluss hätte ich schon viel früher fassen sollen und als ich mich endlich dazu entschieden hatte, setzte ich mich sofort hin und schrieb ihm einen Brief nach München. Schon nach kurzer Zeit erhielt ich ein Telegramm: Joseph war unter ein Auto gekommen und sofort tot.«
»Warum habt Ihr mir nie etwas davon erzählt, Mutter?«
»Du hattest schon dein eigenes Leben und deine eigenen Sorgen. Nur sein Buch ist mir geblieben. Jetzt nimm du es. Bewahre es gut auf«, sagte Anna müde und übergab ihrer Tochter die abgegriffenen Seiten. »Ich kenne inzwischen sowieso jeden Vers auswendig.«
Beide Frauen spürten, dass sie sich in diesem Leben nicht mehr begegnen würden.
Weitere Kostenlose Bücher