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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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den Armen ihrer Mutter und an der Seite ihres Vaters. Engelbert war nicht fähig, seiner Frau über den Schmerz hinwegzuhelfen. Er, der als Kind in trostlosen Verhältnissen aufgewachsen war, sollte auf einmal trösten. Er war überfordert, brachte weder eine Geste des Trostes noch ein Wort der Besänftigung zustande. Trotz der vielen Kinder, die sie hatten, war der Verlust von Karolina ein herber Schlag, sie vermissten sie, als wäre sie ihr einziges Kind gewesen. Engelbert nahm den kleinen weißen Sarg mit ihrem leblosen Körper auf seine Schulter und trug ihn den ganzen Weg nach Seifridsberg, wo Karolina begraben wurde.
    Zu ebendieser Zeit stand eines Nachmittags völlig überraschend Max vor der Tür. Kurz vor Beendigung seiner Grundausbildung war auch der Krieg zu Ende gegangen.
    »Na, da sind wir ja gerade noch einmal davongekommen«, begrüßte ihn Engelbert und klopfte seinem Sohn erleichtert auf die Schulter. Und auch wenn die Wiedersehensfreude vom Verlust der Tochter überschattet wurde, so musste es wohl in einer großen Familie sein: Licht und Schatten traten immer zusammen auf – nie gab es nur eitel Sonnenschein, nie nur schwarze Nacht. Die Jahre vergingen, aus den Kindern wurden Erwachsene.
    Max half seinem Vater, wo immer er konnte. Besonders bei der schweren Arbeit, die der Winter mit sich brachte: beim Holzen und beim Burden.
    Ausschließlich im Winter wurden die großen Bäume geschlagen, denn nur wenn sie nicht im Saft standen, konnten sie zu gutem Nutzholz für den Haus-, den Brücken- und den Möbelbau verarbeitet werden. Deswegen fuhren Max und Engelbert meist im Dezember und Januar zum Holzen.
    Im Februar, spätestens Anfang März, wurde das Futter für die Tiere knapp, die den Winter über im Stall standen. Dann nahmen Vater und Sohn den Hörnerschlitten und zogen ihn über Bettenried hoch auf das Bergle, wo das Heu der Sommerwiesen in einem Stadel gelagert wurde. Engelbert und Max luden den Schlitten damit voll, verschnürten ihre Ladung sicher mit Seilen und dann ging es mit den neuen Futtervorräten auf dem Schlitten steile Waldwege, verschneite Bergwiesen und über viele Kurven hinunter nach Westerhofen. Das Burden, wie diese Tätigkeit hieß, konnte ein riesiger Spaß sein, doch oft schwebten die Schlittenlenker in Lebensgefahr.
    Bei Faulschnee oder Sulz war es vor allem anstrengend, da die Kufen immer wieder versackten und der Schlitten sich nicht einmal auf einem abschüssigen Hang von allein bewegte. Dann musste Max schieben, während Engelbert vorne am Schlitten die Richtung bestimmte. Meist schoben sie sogar beide, damit überhaupt etwas voranging. Leichter ging die Fahrt bei Griesel und bei Wildschnee, sie mussten dann nur achtgeben, dass sie nicht zu schnell wurden und aus der Kurve getragen werden konnten. Doch unter diesen Verhältnissen ging es gut voran und der Lenker konnte das Gefährt einigermaßen beherrschen. Äußerst gefährlich war es jedoch, wenn die Fahrt über Firn oder Bruchharsch ging. Waren die Kufen durch das Gewicht des Schlittens erst einmal im Firnspiegel eingebrochen, hatte die gefrorene Harschkruste nachgegeben, dann blieb der Schlitten in dieser Spur, die immer weiter nur geradeaus ging, wie ein Eisenbahnwagen auf seinen Geleisen. Steuern war fast unmöglich, denn für eine Kurve hätte man die vorgegebene Spur verlassen müssen, und das war nur unter äußerster Kraftanstrengung der Schlittenführer möglich. Schnurstracks waren Max und Engelbert schon manchmal mit dem Schlitten auf einen Abgrund zugesteuert und hatten ihre letzte Stunde vor Augen gehabt, da war es ihnen gerade eben noch gelungen, den Schlitten durch den Einsatz der metallenen Würfel unter ihren Greifschuhen im letzten Moment zum Stehen zu bringen.
    »Heute war es wieder mal wie der Ritt auf einem Drachen«, berichtete Max völlig erschöpft seiner Mutter, während Engelbert schon Heu in die Tenne trug. »Hoffentlich schneit es weiter so, denn kommende Woche müssen Vater und ich noch häufiger zum Stadel hoch, damit wir für das Vieh genug Heu auf Vorrat haben.« Gefrorene Haarschippel schauten unter dem Rand der Wollmütze hervor, sein Gesicht glühte von der Kälte des Fahrtwindes und von der Mütze bis zu den Gamaschen hatten sich Blumensamen und Grashalme in seiner Kleidung verfangen.
    Trotz aller Erschöpfung schien das Burden ihm aber gut zu bekommen und einen Riesenspaß zu machen. Engelbert und er wiederholten diese Drachenritte in der darauffolgenden Woche noch sechsmal. Dann

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