Herrgottswinkel
Mai würde es eine große Feier geben. Engelbert und Johanna waren fünfzig Jahre verheiratet. Es herrschten Zeiten der Armut, selbst die Bauern hatten wenig zu essen, und nun wollte auch noch der Witwer von Sophie, der nach dem Tod seiner Frau mit drei Kindern alleine dastand, wieder heiraten – Marie, eine Schwester von Sophie. So kamen also auch Hochzeitskosten auf die ›Goldenen Hochzeiter‹ zu. Zwei große Feste in so kurzer Zeit, wie sollte das zu bewältigen sein?
Da hatte Rosel, Johannas Jüngste, den rettenden Einfall. »Wir machen einfach eine Doppelhochzeit daraus. Alles in einem Aufwasch und nur einmal Kosten.«
Dieser Vorschlag gefiel dem alten Bietsch sofort und Rosel schrieb einige Tage lang die Einladungen. Auf jeder vermerkte sie säuberlich, dass das Gebäck für den Kaffee selbst mitzubringen sei. Dieser Zusatz war Rosel ziemlich peinlich, doch wagte sie nicht, ihrem Vater zu widersprechen, der darauf bestanden hatte. Es konnte nicht angehen, in diesen schweren Zeiten nach dem Krieg jedem Gast solch einen Luxus zu bieten, hatte er argumentiert. Rosel fand das arg knauserig, trotzdem fügte sie auf jeder Einladung diese Bitte hinzu – wenn auch in der kleinsten Schrift, zu der sie fähig war.
Es wurde ein schönes Doppelfest, niemand hatte sich daran gestört, selbst für den Kuchen zu sorgen. Johanna schickte aus eigenen Beständen einen Sack Kartoffeln nach Ofterschwang, wo im Engel gefeiert und Kartoffeln mit frischer Butter und eingelegten Heringen aufgetischt wurden.
Bereits drei Jahre zuvor hatte Rosel einen Fund gemacht, der nun ebenfalls wesentlich zum Gelingen der Doppelhochzeit in diesen Zeiten des Mangels beitrug. Damals hatte Rosel wie jeden Morgen die Kühe aus dem Stall auf die Wiese getrieben, als sie plötzlich am Hang etwas Großes, Weißes liegen sah. Da sie keine Idee hatte, was das sein konnte, und durch die Ereignisse im Krieg vor allem Unbekannten Angst hatte, wollte sie die Kühe anfangs gar nicht auf die Weide lassen. Doch die Neugier siegte und ganz langsam und vorsichtig schlich sie auf den weißen Fleck zu. Er lag am Abhang über dem Hühnerbach und bewegte sich leicht hin und her. Je näher sie kam, desto mehr weiße Schnüre konnte sie erkennen. Schließlich stand sie vor einer riesigen Fläche aus leuchtend weißem Stoff. Vorsichtig legte sie ihn zusammen und trug ihn unter dem Arm nach Hause. Sie wunderte sich über sein geringes Gewicht, es musste sich wohl um einen Seidenstoff handeln.
Als Rosel und Anna abends in unermüdlicher Kleinarbeit die Schnüre vom Stoff lösten und ihn in einzelne Bahnen auftrennten, lüftete Engelbert das Geheimnis. Es musste ein Fallschirm sein, wahrscheinlich von einem Franzosen, denn die hatten diese Gegend am Ende des Krieges befreit. Nach dem Auftrennen wurde jede Bahn gewaschen, gebügelt und in einem Karton verstaut. »Wer weiß, für was man das noch brauchen kann«, meinte Anna zufrieden über die getane Arbeit.
Nun wurde im oberen Stockwerk schon seit Wochen gemessen, zugeschnitten, genäht, Anprobe gemacht und wieder genäht. Anna fertigte für Marie ein langes, weißes Hochzeitskleid aus reiner Fallschirmseide. Aber es war danach noch so viel Stoff übrig, dass Annas Tochter Erika und ihre Nichte ebenfalls weiße Seidenkleider bekamen. Als Rosels Fund vom Hühnerbach bis auf einen winzigen Rest, der aber noch für einige Taschentücher reichte, seiner neuen Bestimmung zu geführt worden war, nähte Anna ihrer Mutter noch ein schönes, lila schimmerndes Kleid für die Goldene Hochzeit. Es war hochgeschlossen, schwarze Spitze zierte den Stehkragen. Vorne am Kragen war eine ovale, ebenfalls schwarze Brosche appliziert.
Am großen Tag sah Johanna in ihrem neuen Kleid sehr vornehm aus. Sie hatte sich eine schwere, in sich gedrehte goldfarbene Kette um den Hals gelegt und ihr Haar, das nun stark ergraut war und viel von seiner einstigen Fülle verloren hatte, im Nacken zu einem Knoten gebunden. Auf dem Kopf trug sie wie bei ihrer Hochzeit ein Gebinde aus Kunstblumen. Aus nächster Nähe sah man ihr die vielfache Großmutter nun deutlich an. Ihre dunkelbraunen, offenen Augen waren kleiner geworden, glanzloser und sie blickten müde. Unter der Gesichtshaut waren winzige Äderchen zu sehen, die ihren Wangen eine rote Farbe verliehen, egal, ob es warm oder kalt war. Hunderte kleiner Knitterfalten durchzogen die Stirn und umspielten die Mundwinkel, ihre einst vollen, roten und kühn geschwungenen Lippen wirkten blass und
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