Herrgottswinkel
weiter auszuweichen. »Und das andere? Deine Lebensträume, deine Sehnsüchte? War ich dir da eine Hilfe?«
»Wir haben zusammen so viele Kinder großgezogen, wir haben den Hof neu aufgebaut, nachdem der alte niedergebrannt war. Wir haben nur einmal in unserer Ehe wirklich gestritten. Wir haben zusammen durchgehalten. Wahrscheinlich haben wir unser Leben mehr gelebt als viele andere. Dabei warst du immer meine größte Hilfe. Du hast mir gegeben, was du konntest, so, wie ich versucht habe, dir zu geben, wozu ich fähig war. Reicht das nicht?«
Sie wusste, mehr würde sie nicht aus ihm herausbekommen. »Man bekommt immer das im Leben, wonach man sucht. Nicht weniger – aber auch nicht mehr.«
Engelbert nickte, obwohl er sich auf diesen Satz keinen Reim machen konnte. Doch er blieb an ihrem Bettrand sitzen und hielt weiter stumm ihre Hand.
Wenige Tage nach dieser Unterhaltung schlief Johanna ein und wachte nie mehr auf.
JULIA
ALS ROSEL GEENDET HATT, ÜBERLEGTE ICH EINE GANZE Weile, was ich wohl aus der Geschichte meiner Urgroßmutter für mich herausziehen konnte, doch ihr Leben schien auf den ersten Blick nicht viel mit dem meinen zu tun zu haben. Gut, auch ich war als Einzelkind aufgewachsen, doch hatte das nicht dazu geführt, dass es mein einziges Ziel im Leben wurde, Kinder zu bekommen.
War mir meine Urgroßmutter Johanna nicht sogar gerade deswegen so bemitleidenswert fremd geblieben, da sie in meinen Augen gar kein eigenes Leben geführt, sondern nur eines im Sinn gehabt hatte: Kinder, Kinder und nochmals Kinder. Neunzehn Jahre lang war sie eine Gebärmaschine gewesen, kam aus dem Kreis von Geburt, Stillzeit und neuer Schwangerschaft nicht mehr heraus. Sie wollte immer Kinder und dann hatte sie viel zu viele, als dass sie sich um die Belange jedes einzelnen hätte richtig kümmern können. Zur damaligen Zeit war das kein Einzelfall, vielleicht dachten sich die Frauen nichts dabei, weil sie es nicht anders kannten und weil man den Mädchen in der christlichen Erziehung schon von klein auf einbläute, ihre einzige Aufgabe würde darin bestehen, Kinder zu bekommen. Nein, Johanna war kein Lebensmodell für mich, mochten ihre Entscheidungen auch nachvollziehbar sein, sie schien mir viel zu selbstlos und fremdbestimmt gewesen zu sein. Für ihre Partnerschaft hatte sie keine Zeit mehr gehabt, und an ein eigenes Hobby war gar nicht zu denken gewesen. Und doch gab es auch Parallelen zu meinem eigenen Leben.
WIE JOHANNA BIN AUCH ICH NOCH AUF EINEM BAUERNHOF groß geworden. Auf demselben Hof, auf dem sie mit Engelbert ihr Leben verbracht hatte. Jetzt wohnte im Erdgeschoss Tante Lina, die Frau von Johannas ältestem, bereits gestor benen Sohn Max, mit ihren Enkelkindern Hubert, genannt Hubi, und Marianne, zu der alle nur Nanne sagten, und natürlich deren Eltern. Im ersten Stock lebten meine Eltern und ich in der alten Wohnung meiner Oma Anna. Hubi und Nanne waren nur zwei und drei Jahre jünger als ich, und wir spielten jeden Tag zusammen wie Geschwister. Fast immer habe ich unten mit ihnen zu Mittag gegessen, an einem großen Tisch und in einer großen Familie.
Als ich an einem nebligen, kalten Tag im März das Licht der Welt erblickte, war ich ein winziges Häuflein Elend, das über vier Monate brauchte, um zu wissen, ob es leben oder sterben wollte. Mein Vater Heinz heiratete meine Mutter Helga erst, nachdem ich über den Berg war und der Chefarzt der Kinderabteilung des Kemptener Krankenhauses ihnen bestätigt hatte, dass ich es schaffen würde. Mit sechs Monaten wog ich gerade mal neun Pfund und muss so fürchterlich ausgehungert ausgesehen haben, dass es aus dieser Zeit keine Fotos von mir gibt. Meine Eltern liehen sich bei einem Onkel meines Vaters Geld und richteten sich in der Wohnung meiner Oma Anna ein Zimmer ein, das gleichzeitig Wohnzimmer und Schlafzimmer war. Mein Vater arbeitete in Blaichach bei der Baumwollspinnerei, und meine Mutter ging in Sonthofen in die Strumpffabrik. Nach dem Tod meiner Großmutter konnten meine Eltern zwar in Annas Wohnung bleiben, doch meine Mutter hatte nun keinen Babysitter mehr. Sie musste von heute auf morgen ihren Job aufgeben, und weil das Geld hinten und vorne nicht reichte, begann sie mit Heimarbeit. Damit sie am Wochenende wenigstens ein bisschen rauskam, arbeitete sie nebenbei als Kellnerin. In der Gaststätte, wo sie kellnerte, hatten sich meine Eltern kennengelernt, und kurze Zeit nach ihrem ersten Treffen war meine Mutter mit mir schwanger gewesen.
Die Ehe
Weitere Kostenlose Bücher