Herrgottswinkel
selbst fragen«, meinte sie vorsichtig, denn sie konnte sich noch keinen Reim auf diese Geschichte machen.
»Sei es, wie es sei«, fuhr ihr Vater fort. »Jedenfalls gehst du nächsten Sonntag keinesfalls mit ihm spazieren. Das fehlte noch, dass du uns Schande machst!«
Eine Pause entstand. Anna spürte, wie ihr der Atem stockte. Mit einem Schlag zerplatzten alle ihre Träume. Sie konnte die Worte ihres Vaters nur schweigend entgegennehmen, widersprechen würde sie ihm auch diesmal nicht. Den Zorn dieses starrsinnigen, befehlsgewohnten Mannes wollte sie nicht auf sich ziehen. Doch als der Vater endlich weitersprach, glaubte sie ihren Ohren nicht zu trauen.
»Ich habe ihm gesagt, wenn ihm das so wichtig sei, könne er ja am Sonntag zu Kaffee und Kuchen kommen.«
Anna blickte zu Boden, sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Dann räusperte sie sich verlegen und brachte ein krächzendes »Danke!« heraus, bevor sie auf schnellstem Wege und mit weichen Knien die Treppe hoch in ihr Zimmer verschwand. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, nur, dass sie sich unendlich glücklich, zugleich aber auch unsicher und ängstlich fühlte.
Am darauffolgenden Sonntagnachmittag war die ganze Familie um den gedeckten Tisch in der Stube versammelt. Auch diesmal war Franz, so hieß der Zöllner, auf die Minute pünktlich in Westerhofen erschienen und hatte sich zu den anderen auf die Bank gesetzt. Sie aßen fast wortlos von dem Gugelhupf und dem Zopf, die Anna am Vortag mit ihrer Mutter und der jüngsten Schwester Rosel gebacken hatten. Die Brüder und Schwestern musterten den fremden Mann in seiner grauen Uniform neugierig, und auch Annas Eltern hatten nur Augen für den Besucher. Für Anna war diese Schweigsamkeit etwas Neues, denn normalerweise hatte in einer so großen Familie wie der ihren immer einer irgendetwas zu berichten, zu bereden oder zu bemerken. Sie fragte sich gerade, wie sie der angespannten Stille durch einen Scherz oder eine kluge Bemerkung ein Ende bereiten könnte, da erinnerte ihr Vater an den geplanten Spaziergang und bat Rosel, die beiden während der nächsten Stunde zu begleiten.
So sehr Anna sich freute, endlich mit Franz alleine zu sein, ein Gesprächsanfang stellte sich in der frischen Sommerluft genauso wenig ein wie während der Kaffeerunde in der Stube. Beide hatten den Blick stumm auf den Boden gerichtet, setzten wie Marionetten einen Fuß vor den anderen und verwarfen Idee um Idee, wie zwischen ihnen eine Unterhaltung zustande kommen könnte. Lediglich Rosel plapperte wie ein Wasserfall von ihrem neuen Kauf laden, den sie geschenkt bekommen hatte, völlig unbeeindruckt, ob ihr jemand zuhörte oder nicht. Immerhin gab sie damit Franz das Stichwort, Anna von seiner Tätigkeit als Zöllner zu erzählen. Gott sei Dank hätte er durch die strenge Erziehung seiner Eltern schon sehr früh erfahren, wie wichtig die Einhaltung von Gesetzen, Terminen und Versprechen sei und dass jeder für seine Taten auch die Verantwortung übernehmen müsse, erklärte er Anna. Das würde ihn heute auch berechtigen, über andere Menschen harte Urteile zu fällen, denn er selbst – und so würden es auch seine Vorgesetzten sehen – sei ja ein Beispiel dafür, dass man sich in jeder Situation absolut tadellos und verlässlich verhalten könne. Ehre, Treue, Vaterland – das seien seine Grundsätze im Großen wie im Kleinen, und da verstehe er sich wohl ganz gut mit Annas Vater, denn sie hätten sich vom ersten Augenblick an als Ehrenmänner respektiert. Anna hörte seine Ausführungen hocherfreut an. Ja, das war der Mann, den sie beim Nähen vor Augen gehabt hatte: verlässlich, geradlinig, treu. Mit ihm konnte sie sich vorstellen, eine Familie zu gründen. Und, das Allerwichtigste, er schien die Wertschätzung ihres Vaters in kürzester Zeit gewonnen zu haben. Mit einem solchen Mann könnte es ihr gelingen, endlich auch etwas Anerkennung von ihrem Vater zu bekommen. Als sie sich etwas später von Franz verabschiedete, war sie nicht nur höchst zufrieden über den Verlauf des heutigen Tages, manch einer ihrer lang gehegten Träume schien in greifbare Nähe gerückt zu sein – und mit dem Einverständnis ihrer Eltern verabredete sie sich bereits für den nächsten Sonntag wieder mit ›ihrem‹ Franz, wie sie ihn bereits besitzergreifend nannte. Endlich hatte ihr Leben eine Richtung, ein Ziel, das nicht nur ihren eigenen Herzenswünschen entsprach, sondern auch von ihren Eltern wohlwollend betrachtet zu werden
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