Herrgottswinkel
versuchte Anna bei den folgenden Treffen mit Franz jenes Gefühl der inneren Verbundenheit, das sie auf der Lichtung neben der Quelle verspürt hatte, wieder zu erleben. Es war zwar bisweilen noch zu kalt für das Liebesspiel in freier Natur, doch dem Himmel sei Dank, gab es im Allgäu ausreichend Heustadel und Scheunen für ihre Bedürfnisse.
»Wir haben uns doch erst ein paar Mal heimlich getroffen«, klagte sie im Sommer schluchzend ihrer Mutter. »Da kann es doch gar nicht sein, dass meine Regel nun schon zum vierten Mal ausbleibt.«
Doch es bestand kein Zweifel mehr. »Wie sollen wir das nur dem Vater beibringen?« Der erste Gedanke ihrer Mutter galt dem zu erwartenden Zorn Engelberts, der umso wütender sein würde, als das Verhältnis ja unter seinen Augen und mit seiner Zustimmung begonnen hatte. »Es wird nichts anderes übrig bleiben, ihr müsst so schnell wie möglich heiraten, dann bleibt der Anstand gewahrt.«
»Leider geht das nicht mehr, Mutter«, entgegnete Anna traurig.
»Und warum soll das nicht mehr gehen?« Forschend drehte Johanna den Kopf ihrer Tochter zu sich und blickte ihr in die tränenverschleierten Augen.
»Franz hatte doch eine schlimme Lungenentzündung und war danach auf Heimaturlaub, wie Ihr wisst. Deswegen hatte ich ihn bis zu unserem Treffen letzte Woche längere Zeit nicht gesehen. Erst da konnte ich mit ihm über die Schwangerschaft reden, doch er hat mich nur verwundert angeblickt und gemeint, das Kind könne unmöglich von ihm sein, denn er hätte immer gut aufgepasst. Könnt Ihr Euch das vorstellen, Mutter? Er ist doch mein erster Mann und ich habe geglaubt, dass er mich liebt und zu mir stehen wird! Doch er will mich nun plötzlich nicht mehr heiraten!«
»Von wollen kann da keine Rede mehr sein, er wird dich heiraten müssen «, erwiderte ihre Mutter zornentbrannt. »Hat nicht gerade er immer von Ehre, Treue und Verlässlichkeit schwadroniert? Aber das weiß man ja, kleine Kinder und große Sprüche sind schnell gemacht!«
»Selbst wenn man seine Reden ernst nehmen würde, Mutter, und das habe ich weiß Gott getan, selbst dann wäre es schwierig mit dem Heiraten, denn als ich heute auf dem Zollamt war und den Franz sprechen wollte«, Anna weinte nur noch herzzerreißender, »eröffnete man mir, er sei nach Österreich versetzt worden, wohin genau, wollte man mir nicht sagen.«
»Sieh an, der feine Herr Zollinspektor zieht sich elegant aus seiner Verantwortung.« Johanna war außer sich. »Und immer sind es wir Frauen, die ausbaden müssen, was uns die Männer einbrocken. Aber mach dir mal keine Gedanken, ich jedenfalls bin auf deiner Seite, nur müssen wir deinem Vater irgendwie schonend beibringen, dass er in fünf Monaten Großvater eines unehelichen Kindes wird. Am besten ist wohl, er ist schon auf der Alpe, wenn er die Neuigkeit erfährt, sonst schlägt er hier unten noch alles kurz und klein.« Mit diesen Worten ließ sie ihre Tochter allein und ging in die Stube hinunter.
Einige Tage später erhielt Anna einen Brief, den ihr der ältere Zollbeamte persönlich vorbeibrachte. Ihm schien das alles sehr peinlich zu sein und er fühlte sich sichtlich unwohl, als er so vor Anna stand. Er räusperte sich, bevor er überhaupt einen Ton herausbekam.
»Wenn ich gewusst hätte, dass mein Kollege die Situation so schamlos ausnützen würde, dann hätte ich Sie gewarnt, Fräulein Anna, das versichere ich Ihnen.«
Zuerst verstand Anna nicht, was er damit sagen wollte, aber als sie das Schreiben öffnete, wurde ihr die ganze Niedertracht und Verlogenheit, mit der Franz sie umgarnt hatte, bewusst. Der Brief bestand aus wenigen Sätzen – und jeder von ihnen war ein Schlag in Annas Gesicht: Franz war bereits verheiratet, hatte zwei Söhne, und eine Trennung kam für ihn nicht in Frage, da seine Frau schwermütig war.
Jeder Satz war auch ein Schlag in Annas Herz. Er hatte ihr das Blaue vom Himmel versprochen. Doch er hatte ihr dabei die ganze Zeit etwas vorgespielt. Wie hatte sie sich nur dermaßen täuschen lassen können?
Sie hatte ihn doch nur glücklich machen wollen …
ZWEITES KAPITEL
»Sag mal, ist Anna krank, dass sie mich gar nicht besuchen kommt?« Engelbert ging wie jeden Sommer seiner Arbeit als Senn auf der Alpe Gschwend nach und wunderte sich, weil er schon seit mehreren Wochen vergeblich auf den sonst üb lichen Besuch seiner Tochter wartete.
»Na ja, so kann man das nicht gerade nennen«, meinte sein jüngster Sohn Albert, der ihm seit einigen Tagen hier
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