Herrgottswinkel
deiner Großmutter Anna helfen könnte, eine Entscheidung zu treffen, ob du zu Franz zurückkehrst und euren Konflikt zu lösen versuchst. Außerdem können wir hier noch etwas in der Sonne sitzen, bevor wir das letzte Wegstück nach Westerhofen zurücklaufen.«
Ich war sehr neugierig, was meine Großmutter Anna, von der ich so wenig wusste, für eine Frau gewesen war. Vor allem wollte ich auch wissen, warum in unserer Familie kaum von ihr gesprochen wurde. Immer, wenn Tante Rosel in meinen Kindertagen zu mir gesagt hatte: »Der Vater hat die Anna nicht sonderlich mögen«, wurde ich traurig. Warum mochte er sie nicht? Rosel setzte sich auf dem Baumstamm zurecht und begann mit der Geschichte, die man ihr erzählt hatte, als sie selbst noch klein war. Rosel war erst zwölf Jahre nach Anna zur Welt gekommen, und meine Großmutter war für sie so etwas wie eine Mutter gewesen, da ihre richtige Mutter ja wenig Zeit für sie gehabt hatte, hatte sie sich doch noch um so viele andere Kinder kümmern müssen.
ANNA
ERSTES KAPITEL
Ihr Leben war schwer, solange sie zurückdenken konnte. So klein sie gewesen war, sie hatte ihrer Mutter schon immer helfen müssen. Während ihre älteren Brüder vor dem Haus Fangen spielten, stand sie, kaum drei Käse hoch, auf einem Stuhl am Herd und spülte in einer großen Blechschüssel das Geschirr ab. Dann war um sie herum alles nass, und wenn das Wasser auf die heiße Herdplatte spritzte, dampfte und rauchte es nur so in der Küche.
Der Vater hatte kein gutes Wort für sie übrig, er beachtete sie kaum. Nur wenn beim Abtrocknen ein Teller in Scherben ging, dann schaute er sie mit einem verächtlichen, finsteren Blick an, der ihre zarte Kinderseele mehr verletzte, als körperliche Züchtigung es vermocht hätte. Handgreiflich wurde ihr Vater bei der Erziehung kaum, obwohl sie zu Hause dreizehn Kinder waren. Sein strenger, wortloser Blick genügte. Da musste man schon wirklich etwas Schlimmes ausgefressen haben, um seine Hand zu spüren.
Die Mutter war da schneller bei der Sache, doch mehr als einen Klaps auf den Hintern oder eine Ohrfeige hatte man auch von ihr nicht zu erwarten. Eigentlich kannte Anna ihre Mutter nur mit dickem Bauch und halb offener Bluse, wenn sie gerade wieder einmal eines ihrer neuen Geschwisterchen stillte. Doch während Johanna einfach immer mit etwas anderem beschäftigt zu sein schien, hatte Anna bei ihrem Vater das Gefühl, dass er sie nicht mochte und noch nie gemocht hatte, solange sie zurückdenken konnte. Als sie älter wurde, hatte sie sich oft gefragt, warum er all ihre Brüder und Schwestern ihr gegenüber bevorzugte und für sie nur Verachtung übrig hatte, falls er sie überhaupt einmal zur Kenntnis nahm. Mit seinen Söhnen tollte er oft ungezwungen herum und auch für die Wünsche ihrer jüngeren Schwestern schien er stets ein offenes Ohr zu haben. Anna konnte sich jedoch nicht daran erinnern, von ihm jemals zärtlich in den Arm genommen und getröstet worden zu sein. Sie hatte zu arbeiten und die Pflichten der ältesten Tochter im Haushalt zu erfüllen – da war kein Platz für solche gefühlsmäßigen ›Ablenkungen‹.
Erst viel später, sie war schon über zwanzig, erfuhr sie von ihrer Mutter, dass sie ausgerechnet am Todestag von Engelberts Mutter auf die Welt gekommen war. Annas Vater war gerade zwei Jahre alt gewesen und das letzte der acht Geschwister, als seine Mutter mit sechsundvierzig Jahren im Kindbett starb. Keine sechs Monate später hatte Engelbert eine Stiefmutter bekommen, die bei Auseinandersetzungen immer nur ihn verantwortlich gemacht hatte, und ab diesem Augenblick auch keine Mutterliebe mehr erfahren.
»Aber zwischen dem Todestag seiner Mutter und meinem Geburtstag liegen über dreißig Jahre!« Anna war entsetzt. »Was kann denn ich dafür, dass ich am siebten Dezember geboren bin?«
Darauf wusste Johanna auch keine Antwort, und Anna brachte nicht den Mut auf, mit ihrem Vater einmal offen über dessen Ablehnung zu sprechen. Er war ihr gegenüber einfach zu unnahbar, als dass sie sich das getraut hätte. Wahrscheinlich hätte ein solches Gespräch an ihrer Situation sowieso nichts mehr geändert. Ihr Leben war verpfuscht, bevor es richtig begonnen hatte! Vielleicht war sie wirklich am falschen Tag zur Welt gekommen, dachte sie oft, und an ihren Geburtstagen schaffte sie es sogar manchmal, darüber einen Scherz zu machen: So viel Unglück, nur weil sie sich einen schlimmen Tag für ihre Geburt ausgesucht hatte
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