Herrgottswinkel
schien.
Als sie im Laufe der Woche über die neuen Entwicklungen nachdachte, fielen ihr mit einem Mal gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihrem Vater und Franz auf. Beide waren ihr gegenüber nüchtern, ja fast kühl, und diese Unnahbarkeit faszinierte sie sowohl an ihrem Vater wie auch an Franz. Und wieder fiel ihr ein Ausspruch von Mahle ein. »Es heißt, wir Frauen würden uns die Männer aussuchen, die Ähnlichkeit mit unseren Vätern haben«, hatte die Großmutter einmal gesagt, als sie gerade dabei waren, einen Hohlsaum zu sticken. Anna hatte sich wohl deshalb so schnell und ohne Vorbehalt verliebt, da Franz ihrem Vater sehr ähnlich war. Er hätte ja auch fast ihr Vater sein können, wie ihre Schwestern sie manchmal zu necken versuchten.
»Der könnte ja dein Vater sein«, prustete Marie, als Anna ihr das Geburtsdatum von Franz nannte. »Fast zwanzig Jahre älter als du, das wäre mir viel zu alt.«
Doch Anna machte das nichts aus. Sie sah einen Weg, der Einsamkeit und der vielen Arbeit zu entrinnen. Noch oft dachte sie daran, wie sie diesen stattlichen Mann in seiner Uniform zum ersten Mal gesehen hatte. Ab diesem Moment hatte sich ihr Leben anders angefühlt, irgendwie leichter, so, als würde jetzt alles einfacher werden.
Zwischen ihren sonntäglichen Spaziergängen schrieb Franz Anna fast immer einen Brief, den er dann Rosel auf ihrem Schulweg von Hüttenberg nach Westerhofen in die Hand drückte. Heimlich übergab Rosel den Brief ihrer Schwester, sobald sich dafür eine Gelegenheit bot, und von Mal zu Mal war diskrete Übergabe auch angebrachter, denn seine Liebesbriefe wurden immer eindeutiger und feuriger.
Anna war zum ersten Mal in ihrem Leben voller Glücksgefühle. Die viele Arbeit schien ihr leicht von der Hand zu gehen und sie lebte nur noch für die Augenblicke, in denen sie mit Franz zusammen sein konnte. Nach Weihnachten hatten sie auf sein Drängen hin angefangen, sich unter der Woche heimlich zu treffen. Waren sie anfangs noch Händchen haltend nebeneinander auf den tief verschneiten Wegen spaziert, so war ihr aufgefallen, dass er sie immer häufiger an einsame Orte oder in das Dickicht am Rande des Waldes führte, wo er »endlich nur mit ihr allein« sein wollte. Einmal im Januar war er so zudringlich geworden, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen gewusst hatte, als ihn über sein Verhalten zur Rede zu stellen.
»Du weißt, dass ich das nicht tun kann, und du solltest es respektieren, Franz. Wo bleiben deine strenge Erziehung und dein mustergültiges Verhalten? Du weißt, wie sehr ich dich mag, aber bitte nimm Rücksicht auf mich. Ich könnte meiner Familie nicht mehr unter die Augen treten, wenn ich dir deine Wünsche erfülle.«
»Es sind doch gar nicht nur meine Wünsche. Wie soll ich dich denn respektieren, wenn du nicht einmal deine eigenen Wünsche ernst nimmst? Immer unterdrückst du deine Bedürfnisse, nur weil du glaubst, dass du in den Augen der anderen so richtig handelst. Steh endlich zu dir und zu deinen Träumen und lass nicht immer andere über dein Leben bestimmen.«
»Ich weiß, dass ich viel zu wenig auf mich selbst höre, und eigentlich will ich dasselbe wie du, aber stell dir mal vor, ich werde schwanger … Meine Großmutter hat sich dadurch ihr Leben zerstört.«
»So weit würde ich es nie kommen lassen, das weißt du. Ich würde immer zu dir stehen. Du weißt doch, was für ein Familienmensch ich bin. Eine Schwangerschaft wäre für mich nur ein Grund, dich noch viel schneller zu heiraten.«
Wie hätte sie ihm da widerstehen können? Ja, sie musste endlich damit anfangen, zu ihren Träumen zu stehen und dafür zu kämpfen. Was konnte schon Schlimmes geschehen, außer dass sich ihre Ziele, einen Ehemann und eine eigene Familie zu haben, noch schneller erfüllen würden?
»Aber gib mir noch etwas Zeit, ich will doch nichts falsch machen«, bat sie ihn, denn ihr war bewusst, welch schwere Entscheidung sie treffen musste. Er verabschiedete sich von ihr mit einem Kuss auf die Stirn und dem Versprechen, so lange zu warten, wie sie wollte, wenn es sein musste bis zur Hochzeitsnacht. Und sie hätte an diesem Abend die ganze Welt umarmen können. Ja, sie hatte mit Franz die richtige Wahl getroffen. Es war ihm ernst, er respektierte sie und er würde der verlässlichste Ehemann und ein treu sorgender Vater für ihre Kinder sein, das zeigte sein Verhalten. Anna stieg in ihr Bett und begann, über ihr Hochzeitskleid nachzudenken und dass sie bald mit ihren Eltern reden
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