Herrgottswinkel
…
Vielleicht war durch den Mangel an Zuwendung auch zu erklären, warum sie das Schneiderhandwerk erlernt hatte. Denn hatte sie nicht schon als Kind immer, wenn sie wieder einmal etwas besonders schön und sorgfältig gestopft hatte, ihren Vater wohlwollend mit dem Kopf nicken sehen? Hatten nicht ihre Großmutter, deren Namen sie geerbt hatte und die von allen nur ›Mahle‹ genannt wurde, und ihr Vater über sie getuschelt, wenn sie am Fenster gesessen hatte und Knöpfe annähte? Mahle hatte ihr früh den Umgang mit Nadel und Faden beigebracht und Anna konnte sich noch gut erinnern, wie ungeduldig die alte Frau mit dem gekrümmten Rücken und den schlechten Augen immer darauf gewartet hatte, dass Anna endlich den Faden durch die Öse der Nadel gebracht hatte und sie mit dem Nähen beginnen konnten.
»Langes Fädle, faules Mädle«, neckte sie Anna, die trotz ihrer sonstigen Fingerfertigkeit dazu so lange brauchte.
Doch Anna machte das nichts aus, sie liebte ihre Großmutter und nahm alles, was diese ihr zeigte und erzählte, dankbar an. Nur leider durfte sie nicht so oft wie ihre Geschwister mit nach Bolsterlang, da Johanna sie meist zu Hause in Westerhofen im Haushalt brauchte. Alle ihre Geschwister schienen Mahle zu lieben, und zwei oder drei von ihnen fuhren stets einige Wochen mit ihr zurück nach Bolsterlang, wenn sie nach dem Besuch bei ihrer Tochter wieder heimkehrte. Deswegen versuchte Anna auch immer, so viel Zeit wie möglich mit ihrer Großmutter zu verbringen und mit ihr zu nähen und zu schwätzen, solange sie in Westerhofen war. Sie verstand zwar nicht immer alles, was die alte Frau sagte, aber es war einfach schön, in ihrer Nähe zu sein und ihrer Stimme zu lauschen.
»Warte nur, bis du einmal so alt bist wie ich, und erlebe, was ich in meinem Leben durchmachen musste! Zwei Männer habe ich zu Grabe getragen und gearbeitet habe ich mehr als mancher Mann«, hatte sie eines Abends zu Anna gesagt, als diese schon etwas älter war und die schwarze Pfaff-Nähmaschine bedienen konnte wie eine Erwachsene. »Leider habe ich nur ein Kind bekommen, doch geliebt habe ich meine Johanna dafür umso mehr.«
Den genauen Sinn hinter dieser Kurzfassung vom Leben ihrer Großmutter und dem ihrer Mutter verstand Anna zwar nicht, doch an jenem Abend war sie überglücklich, von beiden Frauen wegen ihrer Nähkünste in den höchsten Tönen gelobt zu werden. Ihre Geschicklichkeit nahm, nicht nur wegen ihres Fleißes, Jahr für Jahr zu, sodass sie mit der Zeit Röcke, Kleider, ja sogar Mäntel für ihre Schwestern nähen konnte. Oft saß sie den ganzen Tag und die halbe Nacht da, während die Maschine ratterte und ratterte. Das Schöne an dieser Beschäftigung war, dass sie einem Zeit zum Nach denken und Träumen ließ, und Anna musste dann oft an einen Satz des alten Mahle denken, der sie sehr beeindruckt hatte.
»Alles im Leben können sie einem nehmen«, hatte diese gesagt, »nur die Gedanken und die Träume, die sind frei, die bleiben immer.« Dabei hatten ihre wissenden Augen gestrahlt, die sich im Gegensatz zu ihren Gichtfingern mit den geschwollenen Gelenken eine fast jugendliche Frische erhalten hatten. »Das Leben macht mit einem eh, was es will, also nimm es an, wie es kommt – aber vergiss nie deine Träume, kämpfe für sie. Wer aufgibt, ist schon tot, obwohl er noch lebt, das kannst du einer alten Frau glauben!«
Anna wusste es zu schätzen, dass ihre Großmutter so offen und mitfühlend mit ihr sprach, schließlich hatte sie ihr Leben nach diesem Glaubenssatz gelebt, und so verbrachte Anna, während der Stoff unter ihren Händen durch die Maschine surrte, viel Zeit damit, sich mit ihrem Leben, ihren Vorstellungen und Träumen zu beschäftigen.
Fast immer drehten sich ihre Gedanken um das Verhältnis zu ihrem Vater oder um einen Mann, den sie lieben, für den sie da sein und mit dem zusammen sie ihre eigene Familie gründen könnte. Leider hatte dieser Traum gleich mehrere Haken, wie sie sich dann jedes Mal eingestehen musste. Da war zunächst einmal die Tatsache, dass sie nur selten das Haus verließ – wie sollte sie also überhaupt jemanden kennenlernen? Und sollte sich doch einmal eine Gelegenheit ergeben, so würde die Strenge ihres Vaters sie wohl davon ab halten, näher auf ein Angebot einzugehen. Auch den zu erwartenden ›Gegenwind‹ ihrer Mutter, die befürchtete, sie als günstige Haushaltshilfe für die große Familie zu verlieren, durfte sie nicht unterschätzen.
»Mutter, Ihr wart
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