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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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nicht wesentlich abbremste. Selbst Anna hatte großen Spaß dabei und die Schwestern lachten und schrien voller Übermut, wenn ihnen die Fahrt einmal allzu rasant wurde. Anna hatte schon fast vergessen, wie es sich anfühlte, frische Luft zu atmen und die Sonne auf dem Gesicht zu spüren, so lange war sie nicht mehr draußen gewesen. Das letzte Stück mussten sie ihre Schlitten wieder ziehen, dann standen sie vor dem Haus der Familie Burgstaller. Annas Herz klopfte bis zum Hals, als sie am Griff der Haustür rüttelte. Sofort hörte sie Schritte im Haus und eine freundliche, ältere Frau öffnete. Sie hatte ein blondes, gut genährtes Kind mit roten Wangen und braunen Augen auf dem Arm. Anna stockte der Atem, als sie ihrem Sohn so unvermittelt gegenüberstand, denn dies musste der kleine Engelbert sein, das spürte sie sofort.
    »Komm zu deiner Mama, mein Gott, wie habe ich dich vermisst!« Sie breitete ihre Arme aus, nahm den Kleinen und drückte ihn fest an sich. Freudentränen liefen ihr über das Gesicht, als Frau Burgstaller sie und Rosel hereinbat, während Engelbert weinte und schrie wie am Spieß. Er fremdelte und streckte seine kleinen Ärmchen immer wieder in Richtung der anderen Frau. Anna strich ihm über den Rücken und summte eine Melodie, die ihn beruhigen sollte. Langsam wirkten Annas Bemühungen und sein Schluchzen ging in Seufzen über, das immer seltener zu hören war.
    Rosel und Anna aßen bei der Pflegefamilie zu Mittag, da nach machten sie mit dem warm eingepackten Engelbert, der im Kinderwagen seinen Nachmittagsschlaf hielt, eine Spazierfahrt. Zurück bei Frau Burgstaller wurde es langsam Zeit, an die Rückkehr nach Westerhofen zu denken. Anna wurde ganz schwer ums Herz. Ihr Hals war wie zugeschnürt, sie hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Erneut hatten sie die Seelenqualen fest im Griff. Warum muss ich in meinem Leben alles, was ich liebe, wieder hergeben, fragte sie sich. Warum verliere ich alles, kaum dass ich es besessen habe?
    »Nächsten Sonntag komme ich wieder«, verabschiedete sie sich mit fester Stimme von der freundlichen Frau Burgstaller, nachdem sie innerlich eine wichtige Entscheidung getroffen hatte. Sie würde es nicht dazu kommen lassen, dass sie und ihr kleiner Sohn sich entfremdeten. Sie würde ihn so oft besuchen, wie sie nur konnte.
    Rosel und Anna mussten die Schlitten nun den steilen Hang wieder hinaufziehen, den sie vorhin im Schuss lachend heruntergerodelt waren. Jetzt ächzten und stöhnten sie und verfluchten den sulzigen Schnee, der ihnen zusätzliche Anstrengungen abverlangte. Völlig außer Atem, schwitzend und mit einem Herzschlag, der dem Surren von Annas Näh maschine Konkurrenz machte, erreichten sie Ofterschwang.
    »Woher weißt du eigentlich, dass du den Engelbert von nun an jeden Sonntag besuchen kannst, Anna? Du hast doch noch gar nicht mit dem Vater gesprochen«, keuchte Rosel und setzte sich kurz auf ihren Schlitten, bis ihr Herz sich wieder beruhigt hatte.
    »Lass mich nur machen«, erwiderte Anna zuversichtlich, denn sie hatte bereits einen Plan gefasst.
    Auf ihrer Rodelfahrt hinunter nach Westerhofen dämmerte es schon, und da die wärmende Kraft der Sonne nun fehlte, kamen sie mit roten Gesichtern und ziemlich durchgefroren zu Hause an. Sie verstauten die Schlitten im Stadel, hängten ihre steif gefrorenen Wintersachen in der Diele zum Trocknen auf und freuten sich nach all der körperlichen Betätigung während dieses Tages auf ein herzhaftes Abendessen und einen Platz vor dem Ofen.
    Als Anna später in ihrem Bett lag, fiel ihr der Februar vor einem Jahr wieder ein. Damals hatte sie sich zum ersten Mal Franz hingegeben – und von da ab war es in ihrem Leben immer weiter bergab gegangen. Heute hatte sie zum ersten Mal seit langem wieder etwas mehr Lebensmut und Kampfgeist in sich gespürt, trotzdem war sie sich noch nicht sicher, ob das als eine gute Entwicklung gelten konnte. Sie war einfach schon zu oft enttäuscht worden, wieso sollte es diesmal anders sein?
    Von ihrem Entschluss, den kleinen Engelbert jeden Sonntag bei seiner Pflegefamilie zu besuchen, ließ sie sich allerdings nicht mehr abbringen. Fast immer wurde sie dabei von Rosel begleitet. Anna brachte dem Kleinen meist etwas selbst Geschneidertes oder Gestricktes mit nach Muderbolz. Auf dem Hinweg war Anna unbeschwert und in gespannter Vorfreude darauf, was ihr Sohn in der gerade vergangenen Woche wohl wieder Neues gelernt hatte. Und wenn sie dann sah, welche schnellen

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