Herrgottswinkel
Fortschritte er machte, war sie glückselig, drückte ihn stolz an ihre Brust und hätte diese Augenblicke um nichts mehr missen wollen. Wenn er vor Freude gluckste und fröhlich vor sich hin quietschte, hätte Anna die Welt umarmen können. Doch so unbeschwert ihr Hinweg war, so bedrückend war die Rückkehr nach Westerhofen. Meist weinte sie den ganzen Weg und brauchte oft bis zur Wochenmitte, bis sie den Schmerz einigermaßen verwunden hatte. Dann kam der nächste Sonntag und die Wunden wurden von Neuem aufgerissen. Trotzdem nahm sie das alles klaglos auf sich. Kein Gewitter, keine Sintflut, kein Schneesturm hätte sie aufhalten können. Sie lebte nur noch für diese wenigen Stunden, die sie jeden Sonntagnachmittag mit ihrem Engelbert ver bringen durfte. Ansonsten nähte und nähte sie in jeder freien Minute, die sie nicht auf dem Hof mithelfen musste. Das verdiente Geld wurde nahezu völlig für die Kosten der Pflege familie gebraucht, aber zumindest hatte es ihr kleiner Sohn bei den Burgstallers wirklich gut getroffen, wie sie sich in Abständen stolz und traurig zugleich versicherte, um kein schlechtes Gewissen zu bekommen, weil sie ihr Kind nicht selbst großziehen konnte.
»Die Anna bekommt keinen Mann mehr«, stellte ihr Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit fest. »Fesch und fleißig mag sie ja sein, aber wer will schon eine mit einem unehe lichen Kind?«
Als Engelbert fast drei Jahre alt war, verwirklichte Anna ihren Plan. An einem Sonntag nahm sie den Kleinen einfach mit sich zurück nach Westerhofen. Sie hatte sich einen Lei terwagen besorgt, eine Wolldecke und ein weiches Kissen hineingelegt. Dann war sie allein mit dem Wagen nach Muderbolz und hatte den inzwischen äußerst aufgeweckten Jungen mit den langen blonden Haaren und den wachen Augen hi neingepackt. Mit seinem Topfschnitt, den vielen Sommersprossen und dem pausbäckigen Gesicht sah er nach einem richtig frechen Lausbub aus. Zuvor hatte sie der Pflegefamilie erzählt, sie wolle heute endlich einmal den kleinen Engelbert mit dem großen zusammenbringen und schauen, was passieren würde. Zum Abendessen würde sie den Kleinen aber wieder nach Muderbolz zurückbringen, die Burgstallers brauchten sich also keine Sorgen zu machen.
Dann machte sie sich – diesmal durch den Wald über Wielenberg und Schweineberg – mit Engelbert im Leiterwägelchen auf den Weg. Die Herbstsonne streckte ihre sanften Lichtfinger durch die Äste des Mischwaldes, das Laub hatte schon angefangen, sich in strahlenden Rot-, Orange- und Gelbtönen zum letzten Mal, bevor der Winter Einzug halten würde, zur Schau zu stellen, und die Luft roch nach Moos, nach Pilzen und nach der Trägheit des langsam zu Ende gehenden Jahres. Über allem lag eine Ruhe, die diesen Herbsttag besonders geeignet für ihren Plan machte. Zumindest war Anna davon überzeugt.
In Westerhofen angekommen, fand sie ihren Vater tief und fest schlafend auf dem Kanapee in der Stube vor. Sie versuchte, ganz leise zu sein, und drückte beide Daumen, dass auch ihr Sohn ausnahmsweise einmal für fünf Minuten den Mund halten würde. Sie breitete eine Decke aus, setzte den Kleinen darauf und gab ihm seine Holzklötze zum Spielen. Dann setzte sie sich zu ihm auf den Fußboden und baute kleine Türme, die er hochinteressiert, aber mucksmäuschenstill anstarrte. Plötzlich wachte ihr Vater auf, streckte sich laut stöhnend und blickte noch ganz verschlafen auf das Kind. Durch die Geräusche war der Kleine auf den Großvater aufmerksam geworden und da er noch keine Furcht kannte, stand er neugierig auf und tappte Richtung Kanapee. Dann sah er sich den fremden Mann genau an. Der alte Bietsch war schwer beeindruckt. Es imponierte ihm, wie der Kleine so zielstrebig und selbstbewusst auf ihn zugekommen war. Dass ein Kind so wenig Angst vor ihm hatte, gefiel ihm. Und so saß der kleine Kerl später bei seinem Großvater auf dem Schoß und aß mit ihm aus derselben Schüssel Milch und Brocken. Immer wieder warf der alte Mann einen wohlwollenden Blick auf seinen Enkel, der ohne großes Geschrei seine Ansprüche auf den nächsten Bissen geltend machte. In kürzester Zeit hatte der alte Bietsch an dem kleinen Engelbert einen Narren gefressen. Und Anna hatte ihr Ziel erreicht. Von nun an durfte Engelbert bei seiner Mutter in Westerhofen bleiben. Er war der kleine Liebling seines Großvaters, er wurde der große Liebling aller seiner Onkel und Tanten. Anna war selbst etwas überrascht, wie reibungslos ihr Plan
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