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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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nächsten Wochen traf sie sich noch häufiger mit Erich, und bei ihren Gesprächen stellte sich heraus, dass Anna elf Jahre älter war als er, was ihr einen kurzen Stich versetzte. Doch Erich schien das nicht zu stören, er fühlte sich in ihrer Gegenwart offenkundig wohl. Selbst, als sie ihm von ihrem inzwischen fünfjährigen Sohn erzählte, schien ihm das nichts auszumachen, denn er machte ihr weiterhin den Hof. Wegen der vielen Arbeit konnten sie sich immer nur sonntags treffen, also holte Erich sie auf halbem Wege zwischen Westerhofen und Immenstadt ab. Anfangs kam Anna immer allein, doch schon bald wollte Erich auch den kleinen Engelbert kennenlernen. Sie verhielt sich ihm gegenüber viel zurückhaltender und vorsichtiger als bei Franz, als er anfing, sein Verlangen deutlicher zu zeigen. Er schien sich tatsächlich in sie verliebt zu haben, denn wie hätte sie sonst sein Interesse an allem, was sie betraf – Engelbert, Beruf, Familie, selbst Kleidung und Frisur –, deuten sollen? Trotzdem, noch einmal durfte es ihr nicht passieren, dass sie mit einem unehelichen Kind niederkam. Es gelang ihr, die Vorsicht und Zurückhaltung den ganzen Sommer über zu bewahren, doch dann wurde sie schwach.
    Sie hatten sich eines Sonntags schon mittags verabredet, und Erich hatte sie gebeten, am Bahnhof in Immenstadt auf ihn zu warten, falls er sich verspätete. Als sie ihn dann auf den kleinen Bahnhofsvorplatz eilen sah, wusste sie auch, warum er befürchtet hatte, zu spät zu kommen. Er hatte sich bei Freunden zwei Fahrräder ausgeliehen und beide zum Treffpunkt schieben müssen. Auf einem der Gepäckträger war mit einem Hosengürtel ein Picknickkoffer aus geflochtenen Weidenruten festgeschnallt, auf dem anderen bemerkte sie eine rotweiß karierte Decke mit Fransen.
    »Bei dem schönen Wetter könnten wir doch einen Ausflug zum Alpsee machen, was hältst du davon«, begrüßte er sie mit einem strahlenden Lachen.
    Sie war sofort begeistert von seinem Vorschlag und war schon ganz gespannt auf den Alpsee, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. »Das ist eine wunderbare Überraschung, wie es aussieht werden wir auch nicht unterwegs verhungern!« Sie deutete lächelnd auf den Picknickkorb.
    Vom Bahnhof aus fuhren sie die leicht abschüssige Straße hinunter und bald schon lag die Stadt hinter ihnen. Auf einem Kiesweg ging es entlang des Bachlaufs weiter zum kleinen Alpsee, der, idyllisch in einer Kuhle zwischen Immenstädter Horn und der Ruine Rothenfels gelegen, inmitten der dunkelgrünen gemähten Wiesen glitzerte wie ein übergroßer Edelstein. Nach einer kurzen ebenen Strecke am Seeufer erreichten sie die kleine Ortschaft Hub mit ihren alten Bauernhöfen und nachdem sie die Eisenbahngeleise überquert hatten, galt es noch, die letzte Anhöhe vor dem Ufer des großen Alpsees zu erklimmen. Anna traute ihren Augen kaum, als sie oben auf dem Hügel anhielten, gefangen von der Schönheit des Anblicks stieg sie wortlos vom Rad, dann nahm sie minutenlang staunend das vor ihr liegende Panorama mit allen Sinnen auf. Zu ihrer Linken fiel das mächtige Bergmassiv des Immenstädter Horns steil zum einen Ufer des Sees ab. Vor und unter ihr war, so weit der Blick reichte, eine riesige Fläche Wasser zu sehen, es glitzerte in tiefen Blautönen, die an manchen Stellen in Flaschengrün und Türkis übergingen, besprenkelt mit braunen und weißen Tupfern, als hätte ein Maler ein wenig falsche Farbe auf der Leinwand verspritzt. Diese Punkte waren einzelne Ruderboote und Segeljollen, die auf der spiegelglatten Wasserfläche in der absoluten Windstille vor sich hin trieben. Am anderen Ende des Sees, wo er zum Teil verlandet war, leuchtete das helle Gelb des sonnengetrockneten Schilfs zu Anna herüber. Dahinter breitete sich über sanft geschwungene Hügel mit vereinzelten Bauernhäusern und hier und da einer Kuhherde das unvergleichlich satte Grün der Wiesen bis zum Horizont aus, ein Grün, das Annas Meinung nach eigentlich einen eigenen Namen verdient hätte, so unverwechselbar und durchdringend stach es einem in die Augen – All gäugrün, so wie Preußischblau oder Blutrot oder Postgelb, ja, ein solcher Name wäre angebracht gewesen. Ganz zu ihrer Rechten stieg das Gelände um den See zur Thalerhöhe wieder etwas steiler an und das Dunkelgrün der Wälder wurde zur beherrschenden Farbe. Direkt über Anna, sozusagen im Zenit des Himmels, schien eine so kräftige Sonne auf die Seeoberfläche, dass die Luft über dem Wasser flirrte

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