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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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hätte sie Fieber, denn in Abständen schüttelten sie von oben bis unten Krämpfe und sie blickte aus rot unterlaufenen, verschwollenen Augen ins Gesicht ihrer Mutter Johanna, die sich zu ihr heruntergebeugt hatte und ihr zärtlich über den Rücken strich.
    »Warum habt Ihr mir das Liebste auf der Welt genommen? Wer gab Euch das Recht dazu? Und dass Ihr da mitgemacht habt, Mutter, ist mir völlig unverständlich!«
    »Versteh doch, Kind«, entgegnete Johanna, »dein Engelbert ist in Muderbolz in bester Pflege. In der Familie Burg staller gibt es bereits zwei Kinder und sie hat den besten Leumund, den man sich vorstellen kann. Anständig, fürsorglich, christlich, dein Sohn wird es dort gut haben, da kannst du beruhigt sein.« Ihre Mutter versuchte, Anna über den Verlust ihres Kindes hinwegzutrösten, doch ihr war selbst nicht wohl dabei, das konnte man schon allein daran erkennen, dass sie ihrer Tochter nicht in die Augen blicken konnte.
    »Warum nur darf ich nie etwas für mich alleine haben, Mutter? Jeder, den ich liebe, wird mir wieder genommen, nichts bleibt für mich. Zuerst war es Vater, der mich nie wirklich geliebt, sondern immer nur geduldet hat, dann war es Franz, der mich nur schamlos benutzt hat, um an das Ziel seiner Triebe zu kommen, der mich in meinen schönsten Stunden belogen und betrogen hat – und nun wird mir auch noch mein kleiner Sohn genommen. Warum darf ich eigentlich nie glücklich sein, Mutter, was mache ich falsch, dass ich immer wieder so gestraft werde?«
    »Ach, Anna, ich verstehe ja, wie schlimm das alles für dich sein muss, aber du bist noch so jung – und du bist gesund und ganz schön zäh, wie ich während der Geburt feststellen konnte. Das wird vorbeigehen, du hast doch dein Leben noch vor dir.«
    Doch die Worte ihrer Mutter waren Anna kein Trost. Sie erholte sich nur sehr langsam von den Strapazen der vergangenen Tage. Johanna musste ihr zeigen, wie sie ihre Milch abpumpen konnte, damit der kleine Engelbert in der Ferne etwas davon hatte, und so wurde während der nächsten vier Wochen jeden Nachmittag der jüngste von Annas Brüdern, Albert, nach Muderbolz geschickt, um im Rucksack ein Fläschchen voll Muttermilch dort abzuliefern. Für Anna lag eine gewisse Genugtuung darin, dass die Familie jetzt zu ihr hielt und ihr Vater von den Milchtransporten nichts erfuhr. Aber jedes Mal, wenn sie die Pumpe an ihrer Brust anlegte, wurde sie von Neuem an ihren Sohn erinnert, der nun bei fremden Leuten leben musste.
    Jetzt, wo sie endlich etwas Eigenes hätte haben können, etwas, das auch noch aus ihr selbst gekommen war, hatte man sie schon wieder zur Einsamkeit verdammt, hatte das Kind aus ihren Armen gerissen, das sie gerade unter Schmerzen auf die Welt gebracht hatte. Rücksichtslos spielten die anderen immer wieder mit ihren tiefen und ehrlichen Gefühlen. Was für eine Welt ist das nur, fragte sie sich, und wo ist darin mein Platz? Und mit einem Schlag durchfuhr sie ein schlimmer Gedanke: Will ich überhaupt einen Platz in so einer Welt?

DRITTES KAPITEL
    Es war ein strahlend blauer Sonntag im Februar, als sich Anna und ihre Schwester Rosel auf den Weg nach Ofterschwang machten. Zunächst besuchten sie den Gottesdienst in der großen Kirche, und wie schon oft erschien Anna die Predigt viel zu lang, denn sie war mit ihren Gedanken bereits an einem anderen Ort. Nach drei Monaten durfte sie heute ihren Sohn zum ersten Mal besuchen. Sie überlegte aufgeregt, wie er jetzt wohl aussehen und wie ihr Wiedersehen nach so langer Zeit verlaufen würde.
    Während des Winters hatten sich die grauen Tage schier endlos hingezogen, und das trübe Licht war nicht gerade dazu angetan, Annas Gemütsverfassung aufzuhellen. Damit die Zeit schneller verging, hatte sie wieder mit dem Nähen angefangen, doch im Gegensatz zu früher wollte keine richtige Freude über ihre Arbeit mehr aufkommen. Immer wieder war die völlig abgemagerte Anna in Weinkrämpfe ausgebrochen, manchmal hatte sogar die kleine Rosel ihr abends die Kleider ausziehen und ihr ins Bett helfen müssen, so sehr nahmen sie diese Anfälle mit.
    Endlich war der Gottesdienst vorbei, und die beiden Schwestern konnten gar nicht schnell genug nach Muderbolz kommen. Sie setzten sich auf ihre alten Holzschlitten, die sie mit einiger Kraftanstrengung den steilen Weg von Westerhofen nach Ofterschwang hochgezogen hatten, dann ging es im Sauseschritt nach Muderbolz hinunter, denn die Straße war so abschüssig, dass auch der Pappschnee ihr Tempo

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