Herrgottswinkel
starken Wehe pressen durfte, hatte sie keine Kraft mehr dazu. Völlig ermattet spürte sie nur, wie etwas aus ihr herausdrängte, und sie ließ es einfach geschehen, denn zu einer willentlichen Reaktion war sie sowieso nicht mehr imstande. Auch wer ihr das fast neun Pfund schwere Neugeborene in den Arm legte, bekam sie nicht mit, sie schlief sofort tief und erschöpft ein. Sie hatte noch nicht einmal mehr genug Kraft, um zu weinen oder sich darüber zu freuen, dass es endlich vorüber war.
Er soll es einmal besser haben als ich, dachte Anna, als sie von dem kleinen Schreihals geweckt wurde. Es war ein Junge, wie sie sich inzwischen vergewissert hatte. Wie hätte es auch anders sein können, nur ein Junge hatte ihr solche Schmerzen bereiten können, das wurde ihr schlagartig klar. Es waren immer Männer, unter denen sie in ihrem Leben zu leiden hatte: zuallererst ihr Vater, dann Franz und nun ihr Engelbert. Ja, sie würde den Kleinen, geboren im Oktober 1930, Engelbert nennen. Das würde ihr erneuter Versuch sein, den Vater gnädig zu stimmen, und ihm zeigen, welch wichtige Rolle er in Annas Leben spielte. Doch obwohl sie inzwischen ihrer Mutter und der Hebamme mitgeteilt hatte, dass der Kleine Engelbert getauft werden sollte, weigerte sich sein Großvater weiterhin, ihn auch nur in Augenschein zu nehmen. Obwohl der junge Engelbert nun wirklich nichts dafürkonnte, unehelich geboren worden zu sein, ignorierte der alte Bietsch seinen Enkel, als wäre dieser nie zur Welt gekommen.
Am vierten Tag nach der Geburt kam Rosel Anna besuchen, sie weinte und schaute so unglücklich drein, wie Anna sie noch nie zuvor gesehen hatte. Mit einem Mal schluchzte sie: »Die Mutter wird gleich hochkommen und dein Kind holen.«
Anna strich Rosel nur müde mit der Hand über die langen hellbraunen Zöpfe. »Niemand holt den Kleinen«, versuchte sie ihre Schwester zu beruhigen.
Doch Rosel schüttelte unbeirrt den Kopf. »Die Mutter hat vergeblich versucht, sich Vaters Anweisungen zu widersetzen. Schon seit Wochen streiten sie, was aus dem Kind werden soll.«
Anna erfuhr, dass sich ihr Vater, gleich nachdem er er fahren hatte, dass sie schwanger war, nach einem Pflegeplatz für sein unerwünschtes Enkelkind umgetan hatte. Auf keinen Fall sollte es in seinem Haus aufwachsen, sodass ihm dieser Schandfleck auch noch ständig vor die Augen gekommen wäre. Entgegen seinen Gewohnheiten hatte er während des vergangenen Sommers mehrmals die Alpe verlassen und unten im Tal zu mehreren Familien Kontakt aufgenommen, die als Pflegeeltern in Frage kamen. Alles natürlich unter strengster Verschwiegenheit, nicht einmal seiner Frau oder seiner Familie gegenüber hatte er ein Wort darüber verloren. In Muderbolz war er dann fündig geworden, und dass seine Frau ihm Widerrede gab, als er ihr seinen Entschluss mitteilte, interessierte ihn wenig. Was er beschloss, wurde getan, üb licherweise ohne Diskussion, aber wenn die Frau es haben wollte, dann konnte sie ihre Diskussion haben – es würde nichts ändern.
Johanna hatte gehofft, ihr Mann würde durch Annas Qualen bei der Geburt vielleicht milde gestimmt werden und von seinem Plan abrücken, aber sie musste zur Kenntnis nehmen, dass sie bei ihm auf Granit biss. Traurig hatte sie schließlich klein beigegeben und sich in das Unvermeidliche gefügt. In ihrem dunklen Sonntagsmantel und dem schwarzen Kopftuch erklomm sie die Stiege zu Annas Kammer und öffnete die Tür.
»Das könnt Ihr doch nicht machen«, schrie Anna aufgelöst und hielt ihren kleinen Engelbert fest an sich gedrückt. »So grausam könnt Ihr nicht sein!«
Plötzlich stand auch der alte Engelbert in Annas Zimmer und blickte sie nur kalt an. »Schweig, du hast genug Schande in dieses Haus getragen! Ich hätte schon viel früher so mit dir umgehen sollen, dann wäre das alles nicht passiert.«
Jetzt schrie auch noch der Säugling, der durch den Lärm unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war, aber auch ihm nützte alles Klagen nicht, Johanna trat ans Bett, nahm das Kind aus Annas Armen und trug es aus dem Zimmer. Auch Rosel zerrte sie mit sich, dicht gefolgt von ihrem Mann, der die Tür mit lautem Knall hinter sich zuschlug.
Anna drückte sich schluchzend in ihre Kissen, ihr ganzer Körper zuckte, so außer sich war sie über das, was ihre Eltern ihr antaten. Gerade sie mussten doch wissen, wie schwer es ein Kind hatte, das ohne seine Eltern aufwachsen musste! Ihre Mutter war schließlich selbst als Halbwaise aufgewachsen und hatte
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