Herrgottswinkel
unter den Angriffen ihres Stiefvaters unsäglich gelitten, wie sie ihren Kindern oft erzählt hatte. Und ihr Vater war sogar noch schlimmer dran gewesen, hatte er doch mit knapp zwei Jahren seine Mutter verloren und unter der Fuchtel der Stiefmutter von klein auf mehr Schläge als zu essen, geschweige denn Zuwendung bekommen. Mit ihrer harten Entscheidung wiederholten Annas Eltern nun das furchtbare Schicksal, das ihnen selbst zuteilgeworden war – und be gingen so ein schreckliches Verbrechen an ihrem eigenen Enkelkind.
»In diesem Haus sind dreizehn Kinder geboren worden, aber für das vierzehnte soll plötzlich kein Platz mehr sein!« Anna war außer sich vor Wut und Verzweiflung. Unter großen Schmerzen erhob sie sich von ihrem Bett und ging auf wackeligen Beinen zum Fenster. Sie sah, wie ihre Mutter mit dem Kleinen auf dem Arm zum Vater auf den Kutschbock stieg und der Einspänner Richtung Ofterschwang den Hof verließ. Immer mehr verschwamm das Bild des davonfahrenden Gespanns vor ihren Augen, auch, weil ihr ununterbrochen Tränen die Wangen hinunterliefen. Dann sank sie kraftlos vor der Fensterbank auf die Knie und verbarg zitternd ihr Gesicht in den Händen. Minutenlang verharrte sie in dieser Stellung, fast sah es aus, als würde sie beten, dann schleppte sie sich leise schluchzend zurück in ihr Bett, versteckte den Kopf unter der Decke und rollte sich ein wie die Ungeborenen im Mutterleib, die sie einmal auf einer Zeichnung in einem Buch über Krankheiten gesehen hatte. Ihr war plötzlich eiskalt und sie nahm die Bettflaschen, die ihr die aufmerksame Rosel in die Kammer brachte, dankbar an. Eine der Bettflaschen drückte sie an ihre Brust, wie sie es schon als Kind getan hatte, denn so hatte sie auch heute wieder das Gefühl, etwas von der liebenden Wärme zu verspüren, an der in ihrem Leben immer Mangel geherrscht hatte.
»Ich hatte niemals in meinem Leben etwas Eigenes, etwas, das mir ganz alleine gehörte«, sagte sie zu Rosel und erinnerte sich plötzlich an die Puppe, die sie vom Mahle vor langer Zeit einmal zu Weihnachten bekommen hatte. Schön war sie ja gerade nicht mehr, die Puppe, aber die Großmutter hatte ihr ein Rüschenkleid genäht und ein Häubchen und Schuhe gestrickt. Die Puppe hatte in der Kindheit ihrer Mutter gehört und ihre Finger wiesen noch immer die Spuren von Johannas Zähnen auf. Ganz abgeschabt sahen sie aus und von der Farbe der Haare, der Augen und der Lippen war inzwischen fast nichts mehr vorhanden. Anna liebte die Puppe trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Gebrauchsspuren und niemand außer der Berganna wusste, dass diese nun in ihren Besitz übergegangen war. Ihre Brüder interessierten sich Gott sei Dank nicht für solchen ›Mädchenkram‹ und so konnte sie jede Nacht mit ihrer Babel Lore, wie sie sie nannte, verbringen und sich jeden Morgen erneut beim Aufwachen über ihre Gefährtin freuen. Doch keine Freude währt ewig, das wusste sie nur zu gut, und so war es auch mit Babel Lore. Ihre Schwestern hatten sie bei ihr im Bett entdeckt und schon allein aus dem Grund, dass die Puppe jemand anderem gehörte, Ansprüche auf sie angemeldet. Eines Abends hatte Babel Lore dann nicht mehr in ihrem Bett auf Anna gewartet und Johanna hatte nur zu ihr gemeint: »Du bist doch schon viel zu groß, um mit Puppen zu spielen.« Noch herzloser hatte ihr Vater reagiert: »Hast du sonst nicht genug zu tun, dass du glaubst, deine Zeit mit einer Puppe vertrödeln zu können?« Schon immer hatte Anna entweder teilen oder ganz verzichten müssen, schließlich war sie die Älteste, das hatte man ihr jahrelang eingebläut. Sie war die, die geben musste, das wurde ihr von Kindesbeinen an abverlangt. Und zwar ohne Widerworte, eigene Wünsche oder Träume waren bei einem Mädchen fehl am Platz, so war der Lauf der Welt. Denn später würde sie ihrem Mann und ihren Kindern ja auch ihr Bestes geben müssen, also fügte sich ein Mädchen besser beizeiten. Ihrer Mutter wäre es nie in den Sinn gekommen, dass auch Anna manchmal gern einen Nachmittag mit Spielen verbracht hätte. Und schon gar nicht wäre ihr in den Sinn gekommen, einen ihrer Brüder abzukommandieren, damit er die Spül arbeit am Herd übernahm und Anna entlastet wurde.
Es dämmerte schon leicht, Anna war wohl eingeschlafen, als jemand ganz behutsam die Bettdecke von ihrem Kopf zog. Ihre Haare klebten nass an ihrem Gesicht und das Nachthemd war vollkommen durchgeschwitzt. Auch sonst fühlte sich ihr Körper an, als
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