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Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Leiber
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ohne große Schwierigkeiten hereinkriechen. Er schloss es. Dann lehnte er sich aus dem kleinen Fenster, das in den Lüftungsschacht führte und blickte in alle Richtungen, zuerst nach links und rechts, dann nach oben (ein Fenster wie dieses, darüber das Dach), und nach unten (zwei Etagen tiefer Cals Fenster, darunter der Boden des Schachts, auf dem sich im Lauf der Jahre eine dicke Schicht Unrat angesammelt hatte, der in den Schacht gefallen oder hineingeworfen worden war). Es gab keine Möglichkeit, sein Fenster zu erreichen, es sei denn, dass jemand sich vom Dach abseilte oder eine sechs Stockwerk hohe Leiter in den Lüftungsschacht brachte. Aber er stellte fest, dass sein Badfenster nur etwa einen Meter vom Fenster des Nachbarapartments entfernt war.
    Er schloss und verriegelte es.
    Dann nahm er die schwarze, spinnenartige Skizze des Fernsehturms, die vor allem aus hellrotem, fluoreszentem Hintergrund bestand, von der Wand und befestigte sie mit Keilen und starken Reißzwecken, die rote Seite nach außen, im Zimmerfenster. So! Das würde vom Gipfel der Corona Heights klar zu sehen sein und sein Fenster einwandfrei identifizieren.
    Er zog einen leichten Pullover unter seine Jacke (es schien heute etwas kühler zu sein als gestern) und steckte ein zweites Päckchen Zigaretten ein. Er nahm sich nicht die Zeit, ein Sandwich zu machen (schließlich hatte er vorhin bei Cal zwei Scheiben Toast gegessen). Im letzten Augenblick erinnerte er sich daran, sein Fernglas und den Stadtplan in die Taschen zu stecken, und schließlich nahm er auch noch das Journal von Smith mit; vielleicht brauchte er es bei seinem Gespräch mit Byers, um etwas nachzulesen. (Er hatte den Mann angerufen, bevor er aus dem Haus gegangen war, und hatte eine typisch vage und unverbindliche Einladung bekommen, doch irgendwann am späten Nachmittag vorbeizukommen und auch zu der kleinen Party zu bleiben, die er an diesem Abend geben würde. Einige der Gäste würden kostümiert kommen, doch sei das nicht obligatorisch.)
    Bevor er das Zimmer verließ, legte er das Adressbuch von 1927 auf die Stelle der rechten Bettseite, wo sich der Bauch seines ›Studentenliebchens‹ befand, strich mit der Hand flüchtig darüber und sagte grinsend: »So, Liebling, jetzt habe ich dich zur Hüterin von Diebesgut gemacht. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde es zurückgeben.«
    Dann verließ er ohne weiteres Zeremoniell sein Apartment, drehte den Schlüssel zweimal herum, fuhr ins Erdgeschoß und trat in den Wind und das helle Sonnenlicht hinaus.
    Als er die Straßenkreuzung erreichte, sah er keinen Bus kommen und beschloss, den kurzen Weg bis Market Street zu Fuß zu gehen. In Ellis Street nahm er sich ein paar Sekunden Zeit, um seinen Lieblingsbaum in San Francisco zu betrachten (anzubeten?): eine sechs Stockwerke hohe Kerzenkiefer, die von dünnen, starken Drähten gesichert wurde und ihre grünen Finger über eine braune, gelbumrandete Holzwand streckte, die zwischen zwei Hochhäusern auf einem freien Grundstück stand, das die Baulöwen aus irgendeinem Grund bis jetzt übersehen hatten.
    Einen Häuserblock weiter sah er den Bus kommen und stieg ein: es würde ihm eine Minute einsparen. Als er in Market Street auf den N-Judah-Wagen umstieg, fuhr er erschrocken zusammen und musste rasch zur Seite treten, als ein bleichgesichtiger Betrunkener in einem verdreckten, fahlgrauen Anzug und ohne Hemd auf ihn zutorkelte und anscheinend dasselbe Ziel hatte wie er ›Ohne die Gnade Gottes wäre auch ich in diesem Zustand‹, dachte er und verdrängte diese Vorstellung so rasch, so wie er am Morgen bei Cal die Gedanken an die tödliche Krankheit Daisys verdrängt hatte.
    Er verbannte alle düsteren Vorstellungen so gründlich aus seinem Bewusstsein, dass der alte Bus, der im hellen Sonnenlicht die Market Street und dann Duboce Street hinauffuhr, ihm wie der Triumphwagen eines siegreichen römischen Feldherrn vorkam. (Sollte er einen Sklaven an seiner Seite haben, der ihn mit leiser Stimme ständig daran erinnerte, dass er sterblich sei? Ein reizvoller Gedanke.) Beim Tunneleingang stieg er aus und ging zu Fuß weiter, die steile Duboce Street hinauf. Sie kam ihm heute allerdings weniger steil vor als am Vortag, aber das mochte daran liegen, dass er sich heute frischer und kräftiger fühlte (Und es war ohnehin immer leichter, aufzusteigen, als abwärts zu klettern – vorausgesetzt, man hatte genug Luft – behaupteten die Bergexperten). Die Gegend sah ausgesprochen gepflegt

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