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Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Leiber
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gehalten – für Gehirnkrebs. Er verdrängte den Gedanken sofort.
    Doch ›weiß‹ war zweifellos Cals Adjektiv; keine Herrin der Dunkelheit, keine Mutter der Finsternis, sondern eine Herrin des Lichts und in ewiger Opposition zu der anderen, das Yang zu seinem Yin, Ormadz zu seinem Ahriman – ja, bei Robert Ingersoll!
    Und sie sah wirklich wie ein Schulmädchen aus, ihr Gesicht eine Maske fröhlicher Unschuld und guten Betragens. Doch dann erinnerte er sich an sie, als sie ihr erstes Konzert gespielt hatte. Er hatte seitlich von ihr gesessen, so dass er ihr Profil vor Augen hatte. Wie durch plötzliche Magie war sie zu jemandem geworden, den er noch nie zuvor gesehen hatte, und er war sich ein paar Sekunden lang nicht sicher gewesen, ob er das überhaupt wollte. Sie hatte ihr Kinn an den Hals gedrückt, ihre Nüstern waren gebläht, ihr Auge war allsehend und unbarmherzig geworden, ihre Lippen waren hart aufeinandergepreßt, und die herabgezogenen Mundwinkel gaben ihrem Gesicht einen bösen, fast grausamen Ausdruck, wie dem einer autoritären Schulmeisterin, so als ob sie sagen wollte: ›Jetzt hört mal her, all ihr Geigen, und auch Sie, Mister Chopin. Entweder ihr tut, was ich euch sage, oder …!‹ Es war der verbissene Gesichtsausdruck einer jungen Profi-Künstlerin.
    »Iß sie, solange sie heiß sind!« murmelte Cal, als sie einen Teller mit Eiern vor ihn stellte. »Hier ist Toast.«
    Und nach einer Weile fragte sie: »Wie hast du geschlafen?«
    Er erzählte ihr von den Sternen.
    »Ich bin froh, dass du die Sterne verehrst«, sagte sie.
    »Ja, das stimmt irgendwie«, musste er zugeben. »Sankt Kopernikus, auf jeden Fall, und Isaak Newton.«
    »Mein Vater hat auch bei denen geschworen«, sagte sie ihm. »Und einmal sogar bei Einstein, erinnere ich mich. Ich habe auch damit angefangen, aber meine Mutter hat es mir ausgeredet. Sie hielt es für zu jungenhaft.«
    Franz lächelte. Er sprach nicht von seiner heutigen Lektüre oder den Ereignissen des gestrigen Tages; sie erschienen ihm als unpassende Themen für diese Stunde.
    Es war Cal, die sagte: »Ich finde, Saul war gestern abend sehr nett. Ich mag die Art, wie er mit Dorotea flirtet.«
    »Es macht ihm Spaß, so zu tun, als ob er sie schockieren wolle.«
    »Und ihr macht es Spaß, so zu tun, als ob sie schockiert wäre«, antwortete Cal. »Ich denke, ich werde ihr zu Weihnachten einen Fächer schenken, nur um das Vergnügen zu haben, sie damit umgehen zu sehen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Saul bei Bonita trauen kann.«
    »Was? Unserem guten, alten Saul?« fragte er, mit nur halb gespieltem Erstaunen. Eine Erinnerung kam zurück, lebendig und bedrückend, an das Lachen, das er gestern morgen im Treppenhaus gehört hatte, an ein Lachen, vibrierend von intimer Berührung und Kitzeln.
    »Die Menschen haben überraschende Seiten«, sagte sie sachlich. »Du bist sehr frisch und unternehmungslustig heute morgen. Fast übermütig, wenn du nicht Rücksicht auf meine Stimmung nehmen würdest. Aber unter dieser Oberfläche bist du nachdenklich. Was hast du heute vor?«
    Er sagte es ihr.
    »Klingt gut. Ich habe gehört, dass Byers Wohnung ziemlich spukhaft sein soll. Oder vielleicht haben sie exotisch gemeint. Und ich würde wirklich gerne wissen, was ›607 Rhodes‹ bedeutet. Und auch die Geschichte dieses Gebäudes erfahren, genau wie Gun. Das wäre faszinierend. Aber jetzt musst du mich entschuldigen. Ich muss mich fertigmachen.«
    »Sehe ich dich noch vor dem Konzert? Soll ich dich begleiten?« fragte er, als er aufstand.
    »Nein, nicht vorher«, sagte sie nachdenklich. »Aber nach dem Konzert.« Sie lächelte ihn an. »Ich bin erleichtert, dass du kommst. Pass auf dich auf, Franz!«
    »Du auch, Cal.«
    »Warte.« Sie trat auf ihn zu, das Gesicht erhoben, und noch immer lächelnd. Er legte seine Arme um sie, bevor sie sich küssten. Ihre Lippen waren sanft und kühl.

 
14
     
    Eine Stunde später informierte ein freundlicher, junger Mann im Katasteramt Franz, dass 811 Geary Street offiziell Block 320, Liegenschaft 23 dieser Provinz sei.
    »Wenn Sie etwas von seiner früheren Geschichte wissen wollen, müssen Sie zum Büro des Finanz-Syndikus gehen. Dort weiß man über solche Sachen Bescheid, weil sie sich um die Steuern kümmern.«
    Franz ging den weiten, hallenden Marmor-Korridor entlang zum Büro des Finanz-Syndikus, das auf der anderen Seite neben dem Eingang des Rathauses lag. Die beiden großen Wächter und Idole der Bürger, dachte er: Papiere

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