Herrin der Dunkelheit

den schmalen Spalt zwischen den beiden Hochhäusern noch nicht erreicht hatte; aber er war ziemlich sicher, dass er noch etwas Zeit hatte, wenn auch nicht mehr viel.
    Es schien heute noch klarer und sonniger als gestern zu sein. Der kräftige Westwind hatte die Nebel vertrieben und sogar das grünliche Smogkissen, das sonst ständig über San José hing, aufgelöst. Die niedrigen Berge jenseits der East Bay Städte und nördlich von Marin County waren klar zu erkennen. Die Brücken wirkten scharf und hell.
    Selbst das Meer der Dächer kam ihm heute freundlich und ruhig vor. Er musste daran denken, was für ein Gewimmel von Leben es beschützte, mehr als siebenhunderttausend, und eine noch größere Zahl arbeitete unter diesen Dächern – ein Maßstab dafür, welche Massen von Menschen Tag für Tag aus den Vorstädten nach San Francisco hereinkamen, über die Brücken und die Autobahnen, und mit der BART durch die Tunnel unter den Wassern der Bay.
    Ohne den Feldstecher zu benutzen, entdeckte er den Spalt zwischen den beiden Hochhäusern, in dem sein Fenster lag – es war jetzt voller Sonnenlicht – und hob das Fernglas vor die Augen. Er machte sich nicht die Mühe, den Lederriemen um den Hals zu legen, seine Hand war heute ruhig. Ja, deutlich erkannte er das fluoreszierende Rot, das das ganze Fenster zu füllen schien, obwohl es nur eins der vier Glasquadrate bedeckte. Er glaubte fast, die Zeichnung erkennen zu können – aber das war natürlich Unsinn.
    So viel für Guns (und seine eigenen) Zweifel, ob er gestern das richtige Fenster beobachtet hatte! Es war jedoch seltsam, dass der menschliche Verstand sogar an sich selbst zweifelte, um ungewöhnliche und unkonventionelle Dinge wegzuleugnen, die er klar und deutlich erkannt hatte. Er setzte einen zwischen zwei Stühle, der menschliche Verstand.



Aber die Sicht war heute außergewöhnlich gut. Wie klar sich der fahlgelbe Coit Tower auf dem Telegraph Hill – einst Friscos höchstes Gebäude, jetzt ein Zwerg – gegen das Blau der Bay abhob. Und der fahlblaue, vergoldete Globus des Columbus Tower – ein perfektes, antikes Juwel vor den ordentlich aufgereihten Fensterschlitzen der Transamerica Pyramide, die wie Perforationen in einer Lochkarte wirkten. Und die hohen gerundeten Fenster im Heck des schiffsrumpfförmigen alten Hobarts Buildings, das wie die reichverzierte Admiralskajüte auf dem Quarterdeck einer Galeone aussah und scharf mit den harten, vertikalen Aluminium-Linien des neuen Wells-Fargo Buildings kontrastierte, das hinter ihm zum Himmel aufragte wie ein interstellares Raumschiff auf der Startrampe. Er schwenkte den Feldstecher ein wenig nach links und stellte dabei den Fokus nach.
    Dann warf er wieder einen Blick auf sein Fenster in dem Spalt zwischen den beiden Hochhäusern, bevor die Schatten es verschluckten. Vielleicht konnte er die Zeichnung wirklich erkennen, wenn er den Fokus sehr sorgfältig adjustierte.
    Als er das Fenster im Blickfeld hatte und behutsam an dem gerändelten Knopf der Feineinstellung drehte, sah er, wie das rechteckige Stück fluoreszenten Kartons plötzlich weggerissen wurde. Eine fahlbraune Gestalt erschien in seinem Fenster und winkte ihm mit langen, dünnen Armen zu. Franz sah die vagen Umrisse eines Gesichts unter den erhobenen, fuchtelnden Armen, eine fahle Maske, schmal wie das Gesicht eines Frettchens, ein lang gezogenes Oval, leer und anonym, mit zwei seitlichen Auswüchsen, die die Ohren eines Menschen sein konnten, und einem anderen an dem spitz zulaufenden Kinn … keine Schnauze … nein, ein kurzer Rüssel … ein suchender, tastender Mund, der aussah, als ob er zum Aussaugen von Knochenmark geschaffen worden wäre. Und dann griff das paramentale Wesen durch die Gläser des Feldstechers nach seinen Augen.

 
16
     
    Im nächsten Augenblick des Bewußtwerdens hörte Franz ein hohles Poltern und ein leises Klirren, und er starrte mit nackten Augen auf das dunkle Meer der Dächer und versuchte, irgendwo eine fahlbraune Gestalt zu entdecken, die ihn über die Dächer hinweg verfolgte und jede sich bietende Deckungsmöglichkeit nutzte: einen Schornstein und seine Kappe, eine Kuppel, einen Wassertank, ein Penthaus, sei es groß oder winzig, die Randmauern eines Flachdaches, die Umfassung eines Lüftungsschachts. Sein Herz schlug hart, und sein Atem ging in raschen Stößen.
    Seine aufgescheuchten Gedanken flogen in eine andere Richtung, und er starrte auf die Hänge in seiner unmittelbaren Umgebung und die